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Studieren ohne Hürden

Kein Schulabschluss und trotzdem studieren? Das „Sokrates“-Projekt in Berlin, Wien und Budapest macht es möglich

Ein Student und eine Studentin stehen vor einem Haus und unterhalten sich. Im Hintergrund stehen drei junge Menschen auf der Treppe vor einem Hauseingang. Am Fuß der Treppe befinden sich mehrere Fahrräder.

Das Sokrates-Programm bietet am Bard College in Berlin Kurse für Menschen ohne Schulabschluss an

Auf dem Marktplatz in Athen erfand der griechische Philosoph Sokrates vor mehr als 2.000 Jahren eine neue Unterrichtsmethode. Anstatt sie zu belehren, diskutierte er mit seinen Schülern über die wichtigen Fragen des Lebens. Er war der Ansicht, jeder Mensch trage die Wahrheit in sich verborgen und müsse sie durch Selbsterkenntnis ans Licht bringen. Drei europäische Universitäten übernehmen in einem neuen Projekt nun nicht nur die Methode des Philosophen, sondern auch seinen Namen: „Sokrates“ heißt eine Kooperation des Bard College in Berlin und der Central European University in Budapest und Wien.  Sie bieten Kurse der Geistes- und Sozialwissenschaften an, in denen Sokrates’ Methode der freien Diskussion angewandt wird. Das Besondere: Die Kurse sind kostenlos und richten sich an Erwachsene, die zuvor keine Schule oder Hochschule besuchen konnten.

„Jeder Mensch, der denken und diskutieren kann, ist in der Lage, zu studieren“, sagt Aaron Lambert, Gründer und Leiter des Projekts. „Deshalb wollen wir die Hürden, die es normalerweise beim Zugang zu akademischer Bildung gibt, beseitigen.“ Unterricht, Kursmaterial und die angebotene Kinderbetreuung sind deshalb kostenlos. Für die Bewerbung gibt es keine Voraussetzungen – man muss lediglich bereit sein, aktiv an den Diskussionen teilzunehmen. Das wird vor der Zulassung in Interviews getestet.

Die Universitäten sind Mitglieder des Open Society University Network, das 2020 von dem US-amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros gegründet wurde. Das Netzwerk soll Lehre und Forschung von Hochschulen auf der ganzen Welt durch gemeinsame Projekte zusammenführen. Das Sokrates-Projekt wird seit diesem Jahr mit den Mitteln des Netzwerks finanziert.

„Die Kurse sollen nicht nur Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, sondern auch verschiedener Herkunft, Sprachen und Religionen zusammenbringen“

Vorher arbeiteten Lambert und sein Team ehrenamtlich: 2019 startete das Pilotprojekt an der Central European University in Budapest. Zwei Monate lang besuchten die ersten dreißig Teilnehmenden Kurse in Philosophie, Politik und Literatur. Einer von ihnen war Ibrahim Hossein Mirzai. Der heute 21-Jährige kam 2017 aus Afghanistan nach Budapest. Ibrahim wollte studieren und sah die Kurse als inhaltliche Vorbereitung auf die Uni.  Heraus kam dabei dann allerdings viel mehr: Für Ibrahim war es das Eintauchen in die akademische Welt und in einen Austausch mit ganz unterschiedlichen Menschen. Besonders den Altersunterschied zwischen den Teilnehmenden fand er bereichernd. „In den Kursen habe ich viel von den Menschen, die älter waren als ich, gelernt“, sagt er. „Normalerweise haben verschiedene Altersgruppen nicht so viel miteinander zu tun.“

Die Kurse sollen nicht nur Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, sondern auch verschiedener Herkunft, Sprachen und Religionen zusammenbringen. „Diese Diversität schafft eine sehr kreative und produktive Diskussionsform und ermöglicht einen Perspektivwechsel“, sagt Aaron Lambert. „Das verändert auch, wie Menschen miteinander umgehen.“

Im September haben die ersten Kurse am Bard-College in Berlin begonnen, zwei auf Deutsch, zwei auf Englisch. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Altersspanne der knapp vierzig Teilnehmenden: Sie sind zwischen 22 und 80 Jahren alt.