Ungleichheit | Zentralafrikanische Republik

Euch geht es zu gut

Die einen reden über Verzicht, die anderen halten sich mühsam über Wasser. Die zentralafrikanische Autorin Adrienne Yabouza über schlecht bezahlte Jobs und die Ignoranz der Wohlhabenden

Adrienne Yabouza trägt einen blauen Turban und ein blaues Kleid, um den Hals eine Kette.

Die zentralafrikanische Autorin Adrienne Yabouza lebt heute in Frankreich

Hohe Heizkosten, steigende Lebensmittelpreise, explodierende Mieten – das sind die Themen, über die in Frankreich alle klagen. Jetzt beginnt eine Zeit des Verzichts, heißt es in den Medien. Mich selbst bringt dieses große Wort, ”Verzicht“, ein wenig zum Schmunzeln. Verzichten, das bedeutet schließlich, dass man die Wahl hat zwischen zwei Möglichkeiten.

Ich kann mich zum Beispiel zwischen dem Rauchen und dem Nichtrauchen entscheiden – oder ich kann auf das Rauchen verzichten. Wer so redet, vergisst jedoch ein wichtiges Detail: Viele Menschen haben gar nicht die Möglichkeit, auf etwas zu verzichten. Sie haben keine Alternativen, zwischen denen sie wählen können. Für die längste Zeit meines 58-jährigen Lebens war auch ich einer dieser Menschen.

Geboren wurde ich in der Zentralafrikanischen Republik, genauer gesagt in Bimbo, einem Vorort der Hauptstadt Bangui. Wer über das Leben dort nichts weiß, dem hilft diese Statistik: Jedes Jahr aufs Neue wird die Zentralafrikanische Republik von der Weltbank als eines der ärmsten Länder der Welt geführt.

„Meine Eltern wollten der Armut und den politischen Unruhen entfliehen“

Als ich ein Jahr alt war, flüchteten meine Eltern mit meinen Geschwistern und mir deshalb gen Süden. Sie wollten der Armut und den politischen Unruhen entfliehen, die das Land seit Jahrzehnten fest im Griff hatten. In Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo erhofften sie sich ein sichereres Leben als in Bangui – und es gab Arbeit.

Tatsächlich ergatterte mein Vater dort schon kurz nach unserer Ankunft einen begehrten Job als Leibwächter. Fortan bewachte er ein Familienmitglied des kongolesischen Präsidenten. Doch schon nach wenigen Jahren wendete sich das Blatt für unsere Familie wieder.

Meine Mutter erkrankte schwer und starb und ich musste mich Tag und Nacht um meine jüngeren Geschwister kümmern. Zeit, zur Schule zu gehen, blieb keine – und selbst wenn es sie gegeben hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht auf einer Schulbank gelandet. Bildung wurde von meiner Familie, gerade für Mädchen, nicht als besonders wichtig erachtet.

„Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich noch eine Jugendliche war, als ich dort von meinem Vater verheiratet wurde“

Als ich acht Jahre alt war, hatte sich die Lage in der Zentralafrikanischen Republik dann etwas beruhigt und wir kehrten nach Bangui zurück. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich noch eine Jugendliche war, als ich dort von meinem Vater verheiratet wurde. Doch den Begriff „Jugend“ gab es damals für mich nicht.

Ich hatte keine Ahnung, was ”Jugendlichsein“ bedeutete und mit welchen Freiheiten dieser Zustand anderswo assoziiert wurde. Wie es die Tradition verlangte, kam es also zu einer arrangierten Ehe. Ich wurde schnell schwanger, mit Zwillingen. In kurzen Abständen folgten drei weitere Schwangerschaften.

Denke ich heute an diese Zeit zurück, dann erinnere ich mich vor allem daran, wie unglücklich ich war. In unserem Viertel gab es kein fließendes Wasser und keinen Strom, das Leben war sehr hart. Und als mein Mann starb, war ich als Witwe allein verantwortlich für meine Familie.

Fünf Kinder zog ich alleine groß. Um sie ernähren zu können, wurde ich Friseurin. Die Arbeit wurde schlecht bezahlt, aber sie ermöglichte es mir, meine Töchter zur Schule zu schicken. Außerdem sorgte die Arbeit im Friseursalon für frischen Wind in meinem Leben. Meine Großfamilie erschien mir damals wie ein geschlossenes System, ein Ort, an dem ich immer unter Beobachtung stand und unter den Blicken der anderen lebte. Im Salon konnte ich erstmals frei durchatmen und fühlte mich etwas unabhängiger.

„Mit meinen Kindern versteckte ich mich im Wald nahe Bangui, wo es nichts gab außer Bäumen.“

Im Jahr 2001 holte uns dann jedoch einmal mehr die unsichere politische Lage ein: Ein Putschversuch erschütterte das Land. In der Weltöffentlichkeit mögen die Ereignisse damals kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte des krisengeschüttelten afrikanischen Kontinents gewesen sein und heute sind sie schon lange vergessen. Doch für diejenigen, die diese Ereignisse aus nächster Nähe miterleben müssen, war es das genaue Gegenteil. Für uns gibt es keine kleinen Kriege.

Nachdem der Putschversuch niedergeschlagen wurde, verbreitete sich in Windeseile das Gerücht, dass die Drahtzieher hinter den Umsturzbestrebungen aus dem Volk der Yakoma stammten – meinem Volk. Es begann eine regelrechte Jagd auf Menschen meines Volkes. Auch ich wurde festgenommen. Fliehen konnte ich nur dank eines glücklichen Zufalls; ein befreundeter Polizist ließ mich entkommen.

Mit meinen Kindern versteckte ich mich im Wald nahe Bangui, wo es nichts gab außer Bäumen. Und Schlangen! Wir schliefen auf dem Boden, mit dem Blätterdach der Baumkronen über uns als einzigem Schutz. Glücklicherweise versorgten uns Bekannte damals mit ein wenig Essen, gerade so viel, dass es zum Überleben reichte.

Später erfuhr ich, dass im ganzen Land in dieser Zeit 300 Menschen ums Leben kamen und 50.000 fliehen mussten. Erst nach sechzig Tagen, als sich die politische Lage etwas beruhigt hatte, kehrten wir nach Bangui zurück.

„Meine ehrlichen Worte brachten mir schon bald erste Todesdrohungen ein, auf die wenig später Taten folgten“

Durch Zufall lernte ich dort den französischen Autor Yves Pinguilly kennen, durch den ich meinen Weg in die Schriftstellerei fand. Gemeinsam verfassten wir meine ersten Romane. Ich schrieb über meinen Alltag und was es bedeutet, in meinem Land eine Frau zu sein. Und ich schrieb über den amtierenden Diktator und seine Clique. Doch meine ehrlichen Worte waren Fluch und Segen zugleich: Einerseits entdeckte ich durch sie meine Passion für das Schreiben, andererseits brachten sie mir schon bald erste Todesdrohungen ein, auf die wenig später Taten folgten.

Meine Töchter und ich wurden zu Hause von bewaffneten Männern überfallen. Bis heute weiß ich nicht, ob die Täter Rebellen aus dem Tschad oder regierungstreue Milizen waren. Die Angreifer plünderten unser Haus und hätten uns sicherlich vergewaltigt, wenn unsere Nachbarn uns nicht zu Hilfe geeilt wären.

Damals fällte ich die Entscheidung, Bangui endgültig zu verlassen. Zuerst fanden meine Kinder und ich Zuflucht in der Republik Kongo, genauer gesagt in der Hauptstadt Brazzaville. Von dort bewarb ich mich dann für ein Visum und konnte im Jahr 2014 tatsächlich nach Frankreich ausreisen. Meinen Kindern blieb das Visum allerdings verwehrt.

Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits erwachsen, eine meiner Töchter hatte selbst zwei Kinder. Dennoch fiel es mir enorm schwer, sie in Brazzaville zurückzulassen. Bis heute mache ich mir tagtäglich Sorgen um sie.

„Ich vermisse mein Land. Ich kann den Wunsch nicht aufgeben, eines Tages zurückzukehren“

Seit ein paar Jahren lebe ich nun als politische Geflüchtete in Frankreich. Im Jahr 2016 erhielt ich eine Aufenthaltsgenehmigung für zehn Jahre. Ich wohne in einer Sozialwohnung am Rande von Rennes, eine Wohnung im Zentrum kann ich mir nicht leisten. Im französischen Exil sind es oft die kleinen Dinge des zentralafrikanischen Alltags, die mir besonders fehlen.

Ich sehne mich nach Gerichten wie Ngoudja, einem Fischgericht, das mit Blättern aus dem Wald gekocht wird. Auch Yorogo Fonda, also Kochbananen, und das berühmte Gozo, Maniokbrot, vermisse ich schmerzlich. Und wann immer sich eine Gelegenheit bietet, ersetze ich die triste europäische Kleidung, die ich mir gekauft habe, durch meine farbenfrohen afrikanischen Pagne-Wickeltücher.

Ich vermisse mein Land. Ich kann den Wunsch nicht aufgeben, eines Tages zurückzukehren. Meine Familie fehlt mir, und meine Enkelkinder, die ich noch nie getroffen habe. Zurückkehren kann ich allerdings nicht, da das meinen Status als Geflüchtete gefährden könnte. Also schreibe ich – und arbeite nebenbei als Altenpflegerin. Der Job ist hart und schlecht bezahlt. Jeden Monat leert sich mein Geldbeutel schneller.

Viele der Menschen in meiner Nachbarschaft kommen mit ihrem Lohn bereits nicht mehr über die Runden und sind gezwungen, sich bei den Tafeln Unterstützung zu holen. Oft sind es Frauen, Geflüchtete, Alleinerziehende. Das Wenige, was sie haben, das Wenige, was ich habe, schrumpft.

Aus dem Französischen von Claudia Kotte