Medien | Deutschland

Raus aus der europäischen Blase

Deutsche Redaktionen sind auffällig desinteressiert an Berichterstattung von außerhalb Europas. Der Journalist Mohamed Amjahid schreibt unter anderem über Sex, um trotzdem durchzudringen
Ein junger Mann steht im Freien und blickt seitlich in die Kamera.  Er trägt einen hellen leichten Mantel und dunkle kurze Haare und einen Dreitagebart. Hinter ihm ist eine grüne Wiese, blühende Zweige hängen seitlich ins Bild.

Autor und Journalist Mohamed Amjahid.

Es ist schon etwas außergewöhnlich, dass ich auf das Thema Sexualität zurückgreife, damit sich Menschen in Europa mit der Lebensrealität in Nordafrika – also in der unmittelbaren Nachbarschaft – beschäftigen. Zugegeben ist es auch eine verzweifelte Kreativität, die mich überhaupt auf die Idee gebracht hat, mein neues Buch „Let’s Talk About Sex, Habibi. Liebe und Begehren von Casablanca bis Kairo“ zu schreiben.

Sexualität und Körperlichkeit sind Lebensbereiche, die jede Person interessieren. Vor allem aber kommen sie im sogenannten Westen mit einem kolonialen Blick auf „die Anderen“, vorurteilsgeladen und mit viel Desinformation daher. Eine gute Mischung also, um Aufmerksamkeit zu generieren und ein breites Publikum dazu zu bringen, sich überhaupt mit einer vermeintlich fremden Kultur auseinanderzusetzen.


„Die erste große Hürde, die es zu überwinden gilt, ist das eurozentrische Denken in deutschen Redaktionen“ 


Als Auslandsreporter habe ich gelernt, dass die erste große Hürde, die es zu überwinden gilt, das eurozentrische Denken in deutschen Redaktionen ist. Mit eurozentrisch sind die USA mitgemeint, aus irgendwelchen Gründen gehören sie zu „uns“. Der Rest der Welt hat es dagegen schwer, einen Platz in der Berichterstattung zu bekommen, sodass die entsprechenden Erzählungen differenziert und empathisch ausfallen.

Ich habe alles gesehen: deutsche Redakteure, die den Unterschied zwischen Libyen und dem Libanon nicht kennen, oder Chefredakteure, die eine lange Nahost-Pause in der Berichterstattung einlegen wollen, weil „wir vergangene Woche etwas zu Syrien hatten“ und den Leserinnen und Lesern so viel von „da unten“ nicht zugemutet werden könne.


„In den vergangenen Jahren war das Thema Flucht ein Hebel, um die Betroffenheit der Deutschen zu aktivieren. Darauf habe ich keine Lust mehr.“


Das Problem ist noch nicht mal das eklatante Unwissen. Was weiß ich schon über China oder Peru? Es ist eher das grundlegende Desinteresse an den „Anderen“ und ein einseitiger Blick, die es nicht nur im Journalismus, sondern allgemein im Kunst- und Kulturbetrieb schwer machen, nichteuropäische Perspektiven in den Mittelpunkt zu rücken. Oft taucht die Frage auf: Was haben wir damit zu tun? Die Antwort lautet manchmal: Vielleicht nicht viel, es lohnt sich dennoch, sich mit den „Anderen“ auseinanderzusetzen.

In den vergangenen Jahren war das Thema Flucht ein Hebel, um die Betroffenheit der Deutschen zu aktivieren. Darauf habe ich keine Lust mehr. Es kann nicht sein, dass die Lebensrealität in Afrika, Asien oder Südamerika (egal ob Armut, staatliche Repressionen oder Klimakatastrophe) als Fluchtgrund dargestellt werden muss, damit sich Menschen hierzulande damit beschäftigen. Abgesehen davon, dass diese Probleme meist zur Geschichte und Gegenwart Europas als Ursprung vielen Übels führen.


„Kulturaustausch ist das Fundament für Frieden und Sicherheit.“


Für ukrainische Perspektiven haben sich vor dem Angriffskrieg, der Ende Februar 2022 begann, relativ wenige Menschen interessiert. Im Kulturaustausch gibt es definitiv Konjunkturen. Nach den Revolutionen von 2011 interessierten sich plötzlich mehr Menschen in Europa für die Belange der Demonstrierenden in Nordafrika und im Nahen Osten. Das Zeitfenster für diese Neugierde war allerdings schmal, es schloss sich kurze Zeit später vollständig.

So kann man auch gut verstehen, warum 2022 der Rotstift der Bundesregierung als Allererstes beim Kulturaustausch angelegt wurde: Dem Goethe-Institut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und zahlreichen Dialogformaten wurden Gelder gekürzt. Dabei ist Kulturaustausch das Fundament für Frieden und Sicherheit.

Jetzt scheint es so, dass die Ukraine in vielen Räumen als „wir“ gedacht wird, und genau dieses verkappte Wir-Gefühl sollte fester Bestandteil des Kulturaustauschs werden. Es führt zu einer konstruktiven Emotionalisierung und einer neugierigen Nachfrage nach mehr Informationen. Bis es so weit ist, biete ich Bettgeschichten an und mische Erzählungen von queer-feministischer Emanzipation darunter. 


Mohamed Amjahids Buch „Let's Talk About Sex, Habibi. Liebe und Begehren von Casablanca bis Kairo” (2022) erschien im Piper Verlag.