Ballett

„Mehr Schönes als Schmerz“

Worauf muss man verzichten, um in einem Hochleistungssport wie dem Ballett an die Spitze zu gelangen? Ein Gespräch mit der Ballerina Aurora Dickie

Szene aus dem Ballett "Dornröschen".

Aurora Dickie (links) tanzt die Fliederfee in „Dornröschen“ von Marcia Haydée am Staatsballett Berlin

Frau Dickie, wohl kaum eine Karriere ist körperlich und mental anspruchsvoller als die einer professionellen Tänzerin. Sie sind Solotänzerin am Staatsballett Berlin. Welchen Preis haben Sie dafür bezahlt?

Ich tanze, seit ich laufen kann, und träumte schon als Kind davon, im Tutu „Schwanensee“ zu tanzen. Damals kannte ich aber nur die schöne Oberfläche des Berufs und nicht seine Kehrseite: etwa das jahrelange Üben – und ständig gesagt zu bekommen, was man alles falsch macht. Ballett ist ein ewiges Streben nach Perfektion. Auch wenn ich heute Solistin bin, es also „geschafft“ habe, bin ich als Tänzerin nie „fertig“. Das ist die nicht so glamouröse Seite.

Welche Abstriche mussten Sie zugunsten Ihrer Karriere machen?

Meine professionelle Ausbildung an der Bolschoi-Schule in Brasilien begann im Alter von elf Jahren. Ich konnte deshalb nie ein ganz normaler Teenager sein und musste die Geborgenheit meines Zuhauses schon früh hinter mir lassen. Viele Menschen haben nach der Schule ja erst mal keinen Plan, was sie machen wollen. Ich war mit 18 schon berufstätig.

Im Ballett wird eine sehr bestimmte Form von Schönheit zelebriert. Was bedeutet das für Sie?

Jeden Tag trainieren wir acht Stunden lang vor einem riesigen Spiegel. Darin sieht man nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Tänzerinnen. Zwangsläufig vergleicht man sich. Weil ich eine große Frau bin, längere Beine und breitere Schultern habe als andere, hatte ich immer das Gefühl, dass mit meinem Körperbau irgendetwas nicht stimmt. „Du bist nicht fett, nur groß“, haben meine Klassenkameradinnen immer gesagt. In meiner Wahrnehmung kam ich mir riesig vor.

Hat das beeinflusst, wie Sie sich ernähren?

Ballett ist ein Hochleistungssport. Deshalb muss man dafür sorgen, dass der Körper alles hat, was er braucht. Damals in der Ballettschule gab es durchaus auch Fälle von Essstörungen. Ich persönlich musste das zwar nicht durchmachen, aber ich erinnere mich an Schuldgefühle, die mit Essen verknüpft waren. »Du siehst so schön aus, weil du dünn bist!«, hört man ständig. Zum Glück ändert sich diese Mentalität langsam. Heute werden Ballettschülerinnen dazu ermutigt, an ihrer Kraft zu arbeiten, statt besonders dünn zu sein.

Ballett verlangt extreme körperliche Leistungen. Welche Rolle spielen Schmerzen dabei?

Schmerz gehört dazu. Wenn man viel trainiert, hat man immer irgendwo Muskelkater. Aber manchmal fürchte ich, dass wir Balletttänzerinnen und -tänzer eine besonders hohe Schmerztoleranz haben. Wir gewöhnen uns über die Jahre daran, dass der Körper wehtut. Und manchmal merken wir nicht mehr genau, wann wir aufhören müssten.

Ist die Karriere als Tänzerin all diese Entbehrungen wert?

Manchmal muss ich mich ganz bewusst daran erinnern, dass ich unglaublich privilegiert bin und jeden Tag diese wunderschöne Musik hören kann. Einmal bin ich eine Fee, dann die böse Königin – es wird nie langweilig. Und natürlich sind die Momente der Anerkennung wunderschön: wenn ich die Bühne betrete, wenn wir uns vor dem begeisterten Publikum verbeugen. Ballerina zu sein bedeutet mehr Schönheit als Schmerz. Sonst würde das auch niemand durchhalten.

Das Interview führte Gundula Haage