Jüdisches Leben | London

Von Mode und Migration

Welche Rolle spielten jüdische Menschen beim Aufstieg der Modemetropole Londons? Eine aktuelle Ausstellung geht auf Spurensuche
Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt den Blick in eine große Manufaktur-Werkstatt. An einem langen Tisch sitzen zahlreiche Männer an Nähmaschinen, entlang der Wände sind weitere Männer und Frauen aufgereiht. Alle schauen für das Gruppenporträt in die Kamera

Arbeiterinnen und Arbeiter in der Schneider Garment Factory, die sich im Besitz der jüdischen Familie Schneider befand (ca. 1917). Das vorwiegend jüdische bewohnte East End von London war der Sitz zahlreicher Unternehmen, die Kleidung produzierten

Von den etwa 200.000 Jüdinnen und Juden, die vom späten 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts in das Vereinigte Königreich einwanderten, waren über fünfzig Prozent in Modedesign, Kleidungsherstellung und Textilhandel tätig. Den Lebensgeschichten einiger dieser Menschen widmet sich die Ausstellung „Fashion City: How Jewish Londoners shaped global style“, die bis zum 14. April 2024 im Museum of London Docklands zu sehen ist.

Eine dieser Geschichten ist die von Trude Tausinger, einer „modischen Frau mit großem Kleiderschrank”, die ihr Leben in London mit einer Handtasche voller Dokumente und Erinnerungsfotos begann.

„Jüdinnen und Juden kreierten berühmte Looks des 20. Jahrhunderts und kleideten Berühmtheiten wie David Bowie oder Prinzessin Diana“

Im September 1938 war sie als eine von vielen Jüdinnen und Juden aus Wien geflohen und hatte in England Sicherheit gesucht. Fotos aus ihrer Handtasche sind heute in der Ausstellung zu sehen. Kleidungsmode, Fotografien, Oral History und Privatgegenstände werden hier in den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext eingeordnet.

Denn Jüdinnen und Juden waren vom East End Londons bis hin zu den Couture-Salons im West End führend in der Modeindustrie. Sie kreierten berühmte Looks des 20. Jahrhunderts, gründeten Einzelhandelsketten und kleideten Berühmtheiten wie David Bowie, Prinzessin Diana und Muhammad Ali ein. Bei der Entwicklung Londons zur „Fashion City“ mit Weltruf spielten sie damit eine wesentliche Rolle.

„Fashion City: How Jewish Londoners shaped global style“ basiert auf der Kleidungs- und Textilsammlung des Museum of London und ist der vorläufige Höhepunkt der Forschung von Kuratorin Dr. Lucie Whitmore und Dr. Bethan Bide von der University of Leeds.

Ein Teil der Ausstellung widmet sich Ostlondon. Jüdische Neuankömmlinge siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts im East End, einem Stadtteil mit Einwanderungsgeschichte, an. Die ansässige anglo-jüdische Bevölkerung unterstützte viele von ihnen mit Unterkunft, Arbeit oder einem Nähmaschinenkredit.

Die Einwanderinnen und Einwanderer konnten mit Erfahrungen in Kleidungsherstellung und -handel auch ohne fließende Englischkenntnisse etwas beitragen. Das East End der 1880er-Jahre war geprägt von kleinen Werkstätten. Menschen arbeiteten viele Stunden in engen, feuchten Räumen für sehr wenig Geld.

Charles Booth, Reeder aus Liverpool und Londoner Sozialreformer, berichtet im Jahr 1889 von 571 Bekleidungswerkstätten auf weniger als 2,6 Quadratkilometern. Die Jüdische Bevölkerung habe allerdings nicht isoliert von anderen Bevölkerungsgruppen gelebt, schreibt er. Obwohl viele Schneiderwerkstätten in Jüdischem Besitz waren, hätten auch Nicht-Juden dort gearbeitet.

„Menschen arbeiteten viele Stunden in engen, feuchten Räumen für sehr wenig Geld“

Mit Arbeit und Durchhaltevermögen hatten Londoner Jüdinnen und Juden mal mehr und mal weniger Erfolg. Im Kleidungs- und Pelzhandel erfahrene Straßenhandelnde gründeten kleine Geschäfte und boten Gebrauchtkleidung, Accessoires und Änderungsarbeiten an.

Juda und Malka Fiszer beispielsweise kamen um das Jahr 1900 nach London und eröffneten ein Schirmgeschäft. Sie behielten ihre polnische Staatsangehörigkeit, änderten ihren Nachnamen von Fiszer zu Fisher, und Malka nannte sich fortan Millie.

Eine ganz andere Welt präsentiert der zweite Ausstellungsteil, der sich um das glamouröse West End und die Entwicklung Londons zur Modemetropole im 20. Jahrhundert dreht. Hier laden nachgebaute Geschäfte und der Piccadilly Circus als Kulisse mit eingespielten Straßengeräuschen zum „shoppen“ ein.

„In der Carnaby Street gehörte Ende der 1960er-Jahre mehr als die Hälfte der Geschäfte Jüdischen Unternehmerinnen und Unternehmern“

Das für die Ausstellung nachgebildete Schaufenster von Moss Bros enthält dabei Raritäten aus der Unternehmensgeschichte. Harry Moss (1896 – 1982) beeindruckte zu seiner Lebzeit mit neuen Marketingmethoden wie dem Broschürenversand an Kunden und Werbetafeln am Liverpool Street Bahnhof.

In der Carnaby Street gehörte Ende der 1960er-Jahre mehr als die Hälfte der Geschäfte Jüdischen Unternehmerinnen und Unternehmern. Sie kreierten Orte zum Shoppen von innovativen Looks, Starpräsenz inklusive, und trugen wesentlich dazu bei, dass London zum Mode-Einkaufsziel wurde.

Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt drei Männer, die fröhlich Arm in Arm auf einem Bürgersteig entlang laufen. Alle drei tragen lange Kaftane, zwei davon sind aufwendig bestickt.

Drei Herren tragen den „Men’s Maxi Smoking Dress“ des jüdischen Designers Michael Fish

Bekannte Namen sind Warren und David Gold, Henry Moss und Sidney Brent. Irvine Sellar (1934 – 2017) produzierte Polsterbezugsstoff für „Sellar’s Boutique“ in eigener Fabrik – und Designer Michael Fish, bekannt für fließende Silhouetten und Besitzer von „Mr Fish“ nahe der Carnaby Street, war der Ansicht, Männer seien nicht für Hosen gemacht.

Eines seiner „Mr Fish“-Kleider ist in der Ausstellung zu sehen; es wurde 2023 durch einen Aufruf des Museums gefunden. Zu Fishs Kunden gehörten Jimi Hendrix, Pablo Picasso und Lord Snowdon. Die Extravaganz dieser Herrenmode hatte ihren Ursprung in den Jüdischen Maßschneidereien in der Savile Row und der Jermyn Street.

Auch luxuriöse, maßgeschneiderte Kreationen sind in der Ausstellung zu sehen. Dazu gehören zwei Seidenabendkleider, eines von circa 1952 von Rahvis, den Schwestern Raemonde ‘Rae’ und Dora Davis, und ein weiteres von Belville Sassoon aus dem Jahr 1972.

„Die maßgeschneiderte Kreationen von Michael Fish sind in der Ausstellung in London zu sehen“

David Sassoons Kollektionen sorgten derweil sogar für Aufsehen im britischen Adel: Seinen roten Mantel trug Prinzessin Diana 1981 während der Ankündigung ihrer Schwangerschaft. Sassoon spricht von über siebzig von ihm entworfenen Outfits für die Prinzessin – und in einer Vitrine liegt ein Brief von Diana an „Dear David“.

Anhand von eindrücklichen Biografien werden in der Ausstellung auch wenig beachtete Abschnitte der Vergangenheit thematisiert, so wie etwa im Fall von Netty Spiegel. Die 1923 in Berlin geborene Natalie ‚Netty‘ Margulies kam 1939 mit einem Kindertransport nach England und gründete später als Netty Spiegel das bis heute sehr bekannte Brautkleidergeschäft „Neymar“.

Der Kindertransport, mit dem Nettys Eltern sie nach England schickten, wurde zwischen 1938 und 1939 von jüdisch-britischen Wohltätigkeitsorganisationen und der Quaker Society of Friends zur Rettung jüdischer Kinder aus Nazi-Deutschland und aus von Deutschland kontrollierten Gebieten organisiert.

„Jüdische Kinder wurden einer Risikoanalyse unterzogen, bei der geprüft wurde inwieweit sie sich anpassen und einen Beitrag im Land leisten könnten“

Londoner Parlamentsreden vom 21.11.1938 belegen, dass die Kinder vor der Aufnahme im Land einer Risikoanalyse unterzogen wurden, einem bis heute für Einwandernde üblichen „risk assessment“. Geprüft wurde, inwieweit sie sich anpassen und einen Beitrag im Land leisten könnten, und ob sie ein Risiko für die Arbeitslosenzahlen bedeuteten.

Das Innenministerium stellte Visa für Bildungszwecke für eine nicht benannte Anzahl an Kindern aus. Bedingung war, dass die Jüdischen Gemeinden die „finanzielle Last“ trugen und Pflegefamilien vorhanden waren.

Über „die“ Juden zu sprechen, ist immer eine Verkürzung der vielfältigen Wirklichkeit. Allein im Falle der Jüdinnen und Juden in der Londoner Bekleidungsindustrie waren Qualifikationen sowie wirtschaftliche und soziale Lebenszusammenhänge breit gefächert.

Es gab Menschen, die mit Besatz, Kleidern oder Pelzen handelten, aber gleichzeitig auch Lumpen- und Bekleidungsgroßhändler – und desweiteren Herstellende von Schirmen, Straußenfedern, Spitzen, Knöpfen, Blusen, Hemden, Korsetts, Hüten oder Pelzkleidung. Strick- und Häkelwaren wurden designt, Leder veredelt und Warenlager betrieben.

Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft arbeiteten zusammen, viele unterschiedliche Berufs- und Lebenswege waren möglich. Dr. Bethan Bide und Dr. Lucie Whitmore formulieren eines ihrer zentralen Forschungsergebnisse so: „Einwandernde waren immer entscheidend für den Erfolg von Londoner Mode. Ohne internationale Verbindungen und Perspektiven hätte London niemals seinen Ruf als global bedeutende Modestadt erreicht.“

Allein schon deshalb ist die Ausstellung ein Genuss für alle, die sich für modische Details interessieren. Das Museum of London Docklands stellt seine Stärke unter Beweis, Geschichten von Menschen und Orten miteinander zu verknüpfen. Die erzählten Geschichten eröffnen einen neuen Blick auf das Thema Migration und die Entstehung der Fashion City London.

Anhand von Mode lassen sich bedeutende Geschichten über Politik, Migration, Überlebensstrategien und Unternehmertum erzählen. Nicht nur die Frage danach, welche Rolle Einwandernde in einer Gesellschaft spielen, ist hochaktuell. Es geht auch darum, was Menschen benötigen, um Erfolg haben zu können.