Reisenotizen | Aserbaidschan

Fernab der Front

Aus abgelegenen Dörfern im Kaukasus werden seit Jahren Milizen für den Kampf um Bergkarabach rekrutiert. Notizen einer Reise durch das aserbaidschanische Hinterland

Ein einzelnes weißes Auto steht auf einem Berg vor einem Abgrund. Im Hintergrund erhebt sich ein Bergmassiv.

In den Bergen von Aserbaidschan

Vor ein paar Jahren war ich in den Bergen. Diesmal hatte ich mich nicht für Georgien oder Armenien entschieden, sondern für das reichste ölfördernde Land der Region, für Aserbaidschan.

In der Hauptstadt Baku reihen sich die mit schneeweißem Stuck und Goldintarsien verzierten Schaufenster der Geschäftshäuser von Ferrari und Porsche aneinander, doch ich lasse den surrealen Reichtum und die Salzwolke des austrocknenden Kaspischen Meeres hinter mir und mache mich auf den Weg in die versteckten Bergdörfer im Norden des Landes, die auf eine Vergangenheit von mehreren Tausend Jahren zurückblicken.

Diese andere aserbaidschanische Welt ist nicht nur „ursprünglicher“, sie geht einem auch viel näher. In 2.350 Metern Höhe befinde ich mich in Xınalıq, im aserbaidschanischen Kaukasus. Zusammen mit einer kleinen Gruppe bin ich im Dorf Gast einer Pension. Unser Gastgeber ist überaus höflich. Er erwartet uns mit einem Abendessen und stellt uns einen Fremdenführer zur Verfügung.

Der Fremdenführer ist selbstverständlich sein Sohn, ein Student. Bei den meisten Familien hängen im Wohnzimmer Waffen an der Wand, am Wandteppich hinter dem Samowar für den Tee. Unsere Gastgeber sind außerordentlich freundliche, aufrichtige, offene, fleißige Menschen. Wir gehen in das obere Stockwerk hinauf und betreten die gute Stube.

Federbetten, Bettdecken, geknüpfte und gewebte Teppiche reihen sich meterhoch in der Ecke. Auch in einer Ecke des Wohnzimmers stapeln sich Decken, über den Stapeln hängen die Bilder. Die Bilder toter Soldaten. Väter, Großväter, Söhne. Aus Dörfern wie Xınalıq werden seit dreißig Jahren regelmäßig junge Soldaten für den Krieg um Bergkarabach rekrutiert, für jenen Konflikt, der am anderen Ende des Landes – in der armenisch-aserbaidschanischen Grenzregion – immer wieder aufflackert.

„Die Militärparaden sind Teil des Alltags“

Nachdem wir uns vorgestellt haben, essen wir gemeinsam mit der Familie zu Abend, es gibt Schaf. Einem Teil unserer Gruppe bieten sie in der Küche Platz an. Wer dort keinen Stuhl und kein Gedeck mehr bekommt, für den decken der Hausherr und seine Frau im Wohnzimmer auf dem Teppich. Auch die Kinder helfen mit, sie servieren das Essen.

Ich habe Glück, auch für mich gab es keinen Platz mehr, daher kann ich im Wohnzimmer essen. Bis sie die mit Koriander gewürzte Suppe und den Salat hereinbringen, schauen wir uns im Fernsehen die Nachrichten an. Sie beginnt mit militärischen Meldungen, Bergkarabach wird gezeigt.

Obwohl gerade Frieden ist, betont der Berichterstatter die „gesteigerte Bereitschaft“. Die Militärparaden sind Teil des Alltags. „Jeden Tag läuft das“, sagt unser Gastgeber, der sich bemüht, auf unsere Fragen keine allzu politischen Antworten zu geben. Es gibt eine Schalte nach Baku, wo ein Spalier von Soldaten gezeigt wird. „Der nächste Krieg wird der Krieg der Drohnen“, heißt es in der Reportage. Dann werden Orden verteilt.

Ich starre auf den Bildschirm. Als die Nachrichten vorbei sind und unser Abendessen eintrifft, schaltet jemand den Strom aus oder es gibt einen Stromausfall, ich erinnere mich nicht mehr genau. Es wird stockdunkel. Stille. Unser Hausherr schaltet die Akkulampe an.

Ich mache mit seiner Erlaubnis schnell ein paar Fotos. Samowar und Gewehre. Hier, in den entlegensten Bergdörfern Aserbaidschans, ist das die alltägliche, fremde Wirklichkeit. Das Land ist fest im Griff seines totalitär regierenden Präsidenten Ilcham Alijew. Und auch hier, fernab der Hauptstadt, gilt das armenische Volk als der größte Feind.

„Soldat zu sein gilt hier als eine ruhmreiche Aufgabe, für die man die Berge verlassen kann“

Das unnahbare Dorf Xınalıq war zu sowjetischen Zeiten im Winter gar nicht, in den übrigen Jahreszeiten auch nur mit einer Reise von mehreren Wochen erreichbar. Die Winter sind hart und kalt, die Sommer heiß. Vor ein paar Jahren waren die Dorfbewohner noch Feueranbeter, Anhänger eines alten Kults des Zoroastrismus, die ihre rituellen Gebete an Feuerstellen vollzogen.

Sie hielten an ihrer Religion fest, obwohl die Region mal vom Christentum, mal vom muslimischen Glauben bestimmt war. Danach kam die sowjetische Ideologie. Die heiligen Stätten der Feueranbeter sind auf dem Hügel deutlich zu sehen, zwischen Weideflächen und Gräbern wurden sie aus Steinen gebaut.

Die karge, steinige Bergkette ist wunderschön. Die felsigen Hänge sind von den auf die Gipfel führenden Fußpfaden der nomadischen Hirten durchzogen. An den Hängen sind Schafherden und Galgen zu erkennen, das Blut der geschlachteten Tiere rinnt in eine ausgehobene Grube, das frische Fleisch wird mit gewebten Decken abgedeckt. Ladas, alte sowjetische KAMAZ-Lastwagen, Esel.

2.000 Menschen bewohnen das Dorf, und derzeit gibt es 380 Häuser, so viele Familien leben hier oben. Es ist spektakulär, wie die Häuser am Berg kleben. Die Gebäude, die ständig ausgebessert werden, mögen etwa 200 bis 300 Jahre alt sein. Die hier lebenden Menschen sprechen uns auf Aserbaidschanisch oder Russisch an. Es gibt viele alte Leute, sowjetische Veteranen sitzen vor den Häusern. Soldat zu sein gilt hier als eine ruhmreiche Aufgabe, für die man die Berge verlassen kann.

Im Teehaus sitzen ebenfalls Veteranen. Es gibt es nur einen Tresen und daneben ein einsames Ofenrohr. Stille und Frieden herrschten hier, hier käme keiner hoch, hier sagten sich Fuchs und Hase Gute Nacht, erzählt man uns.

Nur, dass davon kein Wort mehr wahr ist; auch hier ist man Teil des Kreislaufs, man bekommt die Einberufungsbefehle aus Baku. Oft sind es auch die Klans aus der Hauptstadt, die den Nachwuchs aus den Bergen dazu ermuntern, in die großen städtischen Wohnparks zu ziehen und sich der Armee anzuschließen. Sie locken mit Ölgeld und einem modernen Leben.

„In Wirklichkeit glaubt niemand, dass der Krieg um Bergkarabach zu Ende ist“

Vor einigen Monaten, als die Welt mit der Pandemie, mit Sterbefallzahlen und den amerikanischen Präsidentschaftswahlen beschäftigt war, kam es fernab von Xınalıq erneut zu heftigen Auseinandersetzungen. Der armenisch-aserbaidschanische Grenzkonflikt flammte wieder auf – mit mehreren Tausend Opfern unter den Soldaten und Zehntausenden von Armeniern, die ihre Heimat verlassen mussten. Bergkarabach brannte wieder. Und wieder wurden junge Soldaten aus den Bergdörfern gebraucht.

Heute ist der Krieg zu Ende, oder besser gesagt: Es herrscht eine Feuerpause. Seit Monaten finden in der aserbaidschanischen Hauptstadt Siegesparaden statt. Anfang November unterzeichneten Ilcham Alijew, Wladimir Putin und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan ein Abkommen über das Ende des Konflikts in Bergkarabach.

Das Resultat: Die Armenier in Bergkarabach brannten ihre Häuser nieder und räumten ihre Klöster aus, nur Steinmauern blieben, Felsen, damit für die anrückenden Aserbaidschaner nichts übrig sein würde. Mit vollgepackten Geländewagen machten sie sich auf den Weg.

Doch in Wirklichkeit glaubt niemand, dass der Krieg um Bergkarabach zu Ende ist. Die Region ist ein stiller Brandherd voll von unterdrückten Emotionen. In Armenien erinnert der schwelende Konflikt an den armenischen Genozid von 1915. Auch damals griffen die Großmächte nicht ein, als eine fremde Macht das Land überrannte – keine Intervention, nur Absichtserklärungen. Während die Friedenserklärung von Anfang November in Armenien für eine schwere politische Krise sorgte, versinkt Aserbaidschan im Siegestaumel.

Das Abkommen von Bergkarabach stellt einen aussichtslosen Krieg ein, in dem keine gleichrangigen Parteien gegeneinander kämpfen. Das von den Armeniern beherrschte Bergkarabach muss zugunsten der siegreichen Aserbaidschaner auf bedeutende Gebiete verzichten. Doch die Unsicherheit bleibt.

In Bergkarabach wechseln Klöster und Moscheen einander ab. In den Fernsehberichterstattungen ist genau zu sehen, wie die armenischen Soldaten und die Ortsansässigen noch ein letztes Bild vor dem für die Gläubigen bedeutenden Dadiwank-Kloster machen. Indes ziehen Gewitterwolken auf.

Alle bereiten sich auf einen kalten Winter vor, pfeifend und eisig bläst der Wind. Im Hintergrund lodern Steinhäuser, es brennen die Gardine, der Teppich, die alte Holztreppe. Der Exodus beginnt. „Wir werden zurückkehren, entweder ich oder meine Söhne. Wisst ihr, nicht nur die Armenier lieben diesen Berg, auch der Berg liebt die Armenier.“

Aus dem Ungarischen von Eva Zador