Indigene Gemeinschaften | Kenia

„Indigenität ist kein Label“

Maori, Inuit oder Maasai: Was verbindet Indigene weltweit? Der kenianische Aktivist Mali Ole Kaunga erzählt von der Kraft der internationalen Vernetzung und davon, welche politischen Spielräume daraus erwachsen
Ein Mann schaut lachend in die Kamera, er trägt ein weiß-rot kariertes Hemd

Aktivist Mali Ole Kaunga

Das Interview führte Gundula Haage

Herr Kaunga, Sie sind Gründer und Leiter von IMPACT, der kenianischen Organisation für Konflikttransformation und Friedensförderung. Welche indigenen Gemeinschaften vertreten Sie?

Zu Beginn vor allem Maasai aus Laikipia, denen ich selbst auch angehöre. Aber inzwischen arbeiten wir allein in Kenia mit über zehn Gemeinschaften zusammen. Darunter sind Hirtenvölker wie die Samburu, die Turkana und die Maasai, aber auch Jäger und Sammler wie die Ogiek.

Je länger ich mich mit verschiedenen Communitys beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass Indigene in anderen afrikanischen Ländern ganz ähnliche Probleme haben. Darum habe ich das Bündnis PARAN mitbegründet, das indigene Organisationen aus ganz Ostafrika zusammenbringt.

Was sind zentrale gemeinsame Probleme?

Von Land zu Land herrschen natürlich rechtliche und politische Unterschiede, aber so gut wie überall droht indigenen Gemeinschaften der Verlust von Land. In den meisten afrikanischen Ländern werden die Rechte von indigenen Völkern vonseiten der Regierungen nicht ausreichend geachtet. Die Möglichkeiten, traditionelle Lebensweisen wie das nomadische Hirtentum, den Pastoralismus, zu bewahren oder auch die als Jäger und Sammler, sind stark eingeschränkt.

Ob in Namibia oder Kenia, ob in Äthiopien oder Kongo: Indigene Gemeinschaften werden aus den Wäldern vertrieben, damit man diese unter Naturschutz stellen kann. Sie müssen die Savannen verlassen, weil man dort Industrie aufbauen oder neue Infrastrukturprojekte realisieren will.

„Die Wunden des Kolonialismus sind in Kenia noch ganz frisch“

Welche Gründe jeweils für die Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen angeführt werden, ist letztlich zweitrangig, denn das Ergebnis bleibt immer gleich: Die Gemeinschaften verlieren ihr Territorium. Dabei ist Land in vielerlei Hinsicht essenziell: Es geht um die Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen,

aber auch um Identität, um Kultur, Spiritualität und historische Rechte. Viele dieser Landkonflikte wurzeln in der Kolonialzeit. Aber das sind eben keine alten, längst vergangenen Geschichten. Die Wunden des Kolonialismus sind in Kenia noch ganz frisch.

In welchen Bereichen sind diese Auswirkungen heute noch besonders deutlich spürbar?

Als die Europäer nach Amerika kamen, zerstörten sie als Erstes die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung. Sie töteten die Büffel und stahlen ihr Land. Indigene Gemeinschaften in Afrika waren mit ähnlichen Situationen konfrontiert: Gewaltsam wurde ihnen das kollektive Land geraubt. Ihr Vieh wurde beschlagnahmt, neue Krankheiten töteten extrem viele Menschen, und die Übriggebliebenen durften nicht mehr so leben, wie sie es gewohnt waren.

Wenn wir über Indigenität sprechen, geht es zwangsläufig um Fragen von Macht und Herrschaft. Im eigenen Land von Fremden beherrscht zu werden, die alle Entscheidungen treffen – das ist eine Erfahrung, die alle indigenen Gemeinschaften machen mussten. Wie die Aborigines in Australien wurden auch die Maasai und andere indigene Gruppen in Kenia unterdrückt und assimiliert.

Die britischen Kolonialisten bestimmten, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten durften und wie das Bildungssystem auszusehen hatte. Nach der Unabhängigkeit wurde es nicht besser, denn auch die neue kenianische Regierung nahm indigenen Gemeinschaften ihr Land weg.

Wenn wir Maasai all die Gebiete einfordern würden, die wir verloren haben, könnten wir ganz Nairobi für uns beanspruchen. Die kenianische Hauptstadt wurde auf geraubtem Maasailand gebaut.

Von den Inuit am Polarkreis bis zu den Pygmäen in Kamerun bezeichnet der Begriff „indigen“ weltweit sehr unterschiedliche Menschen. Wie definieren Sie Indigenität?

Bei IMPACT arbeiten wir mit eher beschreibenden Definitionen, wie etwa in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen über indigene Völker. Darin ist die Selbstidentifikation ganz zentral.

Weitere wichtige Aspekte sind eine besondere Beziehung zum Land und zur Natur, ein eigenes kulturelles Verständnis, und dass eine eher traditionelle Lebensweise aufrechterhalten wird. Diese Punkte sind bei allen indigenen Gemeinschaften, die ich kenne, vergleichbar. Wie genau diese Kulturen und Lebensweisen aussehen, darin unterscheiden sie sich natürlich extrem. Das betrifft auch das Selbstverständnis.

 

In afrikanischen Ländern beschäftigen wir uns zum Beispiel nicht so sehr mit Fragen der „Ureinwohnerschaft“, also ob indigene Gemeinschaften tatsächlich zuallererst an einem bestimmten Ort gelebt haben. In Lateinamerika, den USA oder in Australien dagegen ist die Frage der Aboriginalität, also des Zuerstdagewesenseins, zentral. Für uns ist wichtiger, mit welchen Schwierigkeiten wir uns heute konfrontiert sehen und wie sich diese über verschiedene Communitys hinweg ähneln.

 

„Die Stärke des Begriffs ‚indigen‘ liegt in seiner kollektiven Macht. Wir haben legitime Rechte, die wir nur gemeinsam einfordern können“

Ist die Selbstidentifikation als „indigen“ in mancher Hinsicht auch einschränkend? Etwa wenn jemand die traditionelle Lebensweise hinter sich lassen möchte und zum Studium in eine Großstadt zieht?

In manchen Kontexten in Kenia kann es schon vorkommen, dass man diskriminiert wird. Viele Menschen haben Vorurteile und sehen Indigene als irgendwie rückständig oder primitiv an. Wenn man zum Beispiel in Nairobi in traditioneller Maasai-Kleidung unterwegs ist, kann es passieren, dass Menschen einen nur mit „Maasai“ ansprechen und nicht mit dem eigenen Namen.

Aber Indigenität ist kein Label, das man sich nach Gutdünken selbst gibt. Wenn man Menschen wie Objekte behandelt und ihnen ein Etikett verpasst, ist das koloniales Denken. Die Stärke des Begriffs „indigen“ liegt in seiner kollektiven Macht. Es geht nicht darum, eine identitätspolitische Agenda zu verfolgen. Indigene Völker haben legitime Rechte, die nur kollektiv eingefordert werden können. Dafür brauchen wir eine einheitliche Terminologie.

 

Indem wir den weltweit bekannten Begriff nutzen, verbinden wir uns über nationale Grenzen hinweg mit anderen Menschen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Wir fordern ja nicht irgendwelche unerhörten Dinge ein. Wir wollen ein Leben in Würde führen können – so wie alle anderen Menschen auch. Die Tatsache, dass indigene Menschen heute bei den Vereinten Nationen eine eigene Konvention haben und verbriefte Rechte besitzen, wurde nur durch den gemeinsam geführten Kampf vieler indigener Gemeinschaften erreicht.

 

Als ich kürzlich für eine Recherche in Kenia war, besuchte ich ein Maasai-Dorf, dessen Bewohner für den Bau des großen Geothermie-Kraftwerks Olkaria zwangsumgesiedelt wurde. Einige Bewohnerinnen berichteten mir, dass sie sich mit Māori aus Neuseeland ausgetauscht hätten. Denn dort war es gelungen, in einer ähnlichen Situation angemessen entschädigt und an den Gewinnen eines Kraftwerks beteiligt zu werden. Kommt es häufig zu Kooperationen mit geografisch weit entfernten indigenen Gruppen wie in diesem Fall?

Ich habe die Kampagnen der umgesiedelten Maasai in Olkaria auf verschiedene Weise unterstützt. Im afrikanischen Grabenbruch gibt es derzeit extrem viele neue Geothermiebohrungen, darum ist damit zu rechnen, dass noch viel mehr Menschen ihr Land verlieren werden. Bei IMPACT entwickeln wir gerade eine Karte, auf der alle Anlagen für erneuerbare Energien verzeichnet sind. Voraussichtlich im Mai 2024 werden wir eine Studie veröffentlichen, in der wir die Auswirkungen dieses Ausbaus auf indigene Völker in Kenia beschreiben.

„Wir fordern ein Leben in Würde – so wie alle anderen Menschen auch“

Aber zum Austausch mit den Māori: Glücklicherweise gibt es immer öfter solche internationalen Kooperationen. Insbesondere vor Gericht hilft es sehr, wenn man Argumentationsmuster von erfolgreichen vergleichbaren Fällen in anderen Ländern kennt und auf ihnen aufbauen kann. Zurzeit reden wir viel mit Sami aus Norwegen. Dort wurde ein wichtiger Prozess gewonnen, die Indigenen bekamen in ihrer Klage gegen Windkraftfirmen Recht (siehe S. 52, Anm. d. Red.).

In Kenia gab es einen ähnlichen Fall, als der Kipeto-Windpark südlich von Nairobi auf indigenem Land gebaut wurde. Das ist tatsächlich das bislang einzige Beispiel, das mir einfällt, bei dem die Gemeinschaft angemessen für den Landverlust entschädigt wurde.

Zu Konflikten zwischen Unternehmen und Regierungen, die den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, und Indigenen, deren Rechte dadurch bedroht werden, scheint es häufig zu kommen …

Wie so viele andere indigene Aktivisten bin natürlich auch ich für den Schutz der Umwelt und den Kampf gegen den Klimawandel. Aber wenn wir über die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung und eine gerechtere Welt sprechen, dann darf das nicht zulasten von indigenen Menschen geschehen. Die Welt muss endlich bereit sein, historisch gewachsene Ungerechtigkeiten als solche anzuerkennen.

Darum ist es so wichtig, dass Leute, die in indigenen Gemeinschaften in verschiedenen Ländern eine Führungsrolle übernehmen, zusammenkommen und sicherstellen, dass unsere Rechte auf internationaler Bühne, wie beim Pariser Klimaabkommen, berücksichtigt werden. Dass es eben nicht nur um Umweltbelange im Allgemeinen gehen kann, sondern auch um die Interessen und Rechte derjenigen, die seit Generationen an bestimmten Orten leben und durch konkrete Entwicklungen betroffen sind.

Die erste indigene Person aus einem afrikanischen Land, die im Rahmen der UN-Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen (WGIP) sprach, war Moringe Ole Parkipuny, ein Massai-Aktivist aus Tansania im Jahr 1989. Wie steht es heute um die Repräsentation der Interessen afrikanischer Gemeinschaften auf internationaler Ebene?

Lange dachte man bei Indigenität vor allem an Native Americans aus den USA, Mapuche aus Lateinamerika und vielleicht noch an Māori oder Aborigines. Das ändert sich zum Glück langsam. Immer mehr Vertreterinnen und Vertreter aus afrikanischen Ländern gehören internationalen Gremien an. Allerdings sind wir immer noch viel zu wenige. Das liegt vor allem am Kampf um Visa und finanzielle Mittel für die Teilnahme an entsprechenden Konferenzen. Afrika ist bei den Vereinten Nationen ganz allgemein stark unterrepräsentiert. Dabei ist es enorm wichtig, dort sichtbar zu sein: um mitreden zu können, gehört zu werden und Verbündete zu gewinnen.

 

Zurzeit sehe ich es allerdings als ein noch drängenderes Problem, dass die nationalen Regierungen, wie etwa die kenianische, die Rechte von Indigenen missachten. Sie sehen indigene Gemeinschaften eher als Störfaktor, als Bedrohung für wirtschaftliche Prestigeprojekte. Darum versuchen wir, viel Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und mit Regierungsmitgliedern ins Gespräch zu kommen.

 

Sind Sie optimistisch, dass kenianische Indigene in Zukunft mehr Sichtbarkeit erlangen können?

Wenn man auf dem Flughafen von Nairobi ankommt, wird man schon heute auf großen Postern von festlich gekleideten Maasai begrüßt. Bei Staatsbesuchen gibt es Aufführungen traditioneller Tänze, und als man in Kenia letztes Jahr zum ersten Mal offiziell einen nationalen Maasai-Tag beging, trat der kenianische Präsident William Ruto in Maasai-Kleidung auf. Sichtbar sind wir also schon. Aber diese Sichtbarkeit muss sich noch in der Anerkennung von Rechten niederschlagen.

 

Kultureller Vielfalt wird international immer mehr Wert beigemessen. Langsam scheint klar, wie wichtig indigene Gemeinschaften mit ihren Lebensweisen, die im Einklang mit der Natur stehen, sind. Wenn wir unser Land behalten dürfen und unsere Rechte gewahrt sind, dann trägt das nicht nur zum Wohl von Indigenen bei, sondern zum Wohl aller Menschen weltweit.