Literatur | Russland

„Die Mächtigen fangen an, mit dir zu tanzen“

Der Schriftsteller Sergej Lebedew erzählt von Russlands inneren Konflikten, Angst als politischem Druckmittel und der Kraft des Schreibens. Ein Gespräch

Der Autor Sergej Lebedew steht auf einer Brücke. Er lehnt mit dem Rücken zum Brückengeländer. Im Hintergrund steht ein Hochhaus mit mehreren Türmen im sozialistisch klassizistischen Stil.

Sergej Lebedew, 1981 in Moskau geboren, ist Schriftsteller, Geologe und Journalist. Er lebt derzeit in Berlin

Interview von Aljoscha Prange

Herr Lebedew, 2020 wurde die russische Verfassung geändert, Wladimir Putin könnte nun weitere 15 Jahre Präsident bleiben. Gleichzeitig sitzt Alexej Nawalny noch immer in Haft. Wie geht es Ihnen angesichts dieser Entwicklungen?

Ich bin erschüttert. Viele sagen, das Worst-Case-Szenario könne in Russland bald eintreffen, dabei hat es längst begonnen. Alexej Nawalny hatte sich auf korrupte Politikerinnen und Politiker eingeschossen, die sämtliche Führungspositionen des Landes besetzen, auf diese kriminelle Bande, die stiehlt und stiehlt. Putin ist definitiv korrupt, aber das ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem ist, dass er innerhalb und außerhalb Russlands Kriege führt – denken Sie an Tschetschenien oder die Ukraine, während niemand über die Verantwortung für diese Verbrechen spricht. Innerhalb der Zivilgesellschaft wiederum herrscht eine gefährliche Mischung aus Angst und Hilflosigkeit. Dahinter verbirgt sich die lange anerzogene Gewohnheit, im Schatten des Staates zu leben. Viele Menschen in Russland sehen sich noch immer nicht als Subjekte, weder ihres eigenen Lebens noch im politischen Sinne. Selbst wenn ein Wunder geschähe und Putin von Außerirdischen entführt würde, würde das ganze System, das auf dieser Verantwortungslosigkeit und Nicht-bestrafung beruht, überleben. Doch da all das schon seit gut dreißig Jahren so läuft, war die derzeitige Situation mehr oder weniger vorhersehbar.

Ihr jüngster Roman „Das perfekte Gift“ liest sich wie eine Vorhersage. Im August 2020 wurde Nawalny vergiftet. Im November erschien dann Ihr Buch in Russland. Sie behandeln darin Folgen des Kalten Krieges, die bis heute spürbar sind. Und es geht um die Arbeit von Geheimdiensten, deren Jagd auf Menschen und tödliche Giftanschläge auf ehemalige Agenten. Haben Sie geahnt, was mit Nawalny geschehen würde?

Bei politischen Aktivisten fängt die Staatssicherheit bei null an. Zuerst wird dein Bruder verhaftet. Dann wirst du wegen irgendeines wirtschaftlichen Schwachsinns angeklagt, wie vermeintliche Steuerdelikte. Doch wenn du Widerstand leistest, gehen sie immer weiter. Wir haben gesehen, wie das genau so mit dem Journalisten Wladimir Kara-Mursa gemacht wurde, mit Pjotr Wersilow von Pussy Riot und vielen anderen. Man kann also durchaus vorhersagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Die Mächtigen beginnen mit einzelnen kleinen Schritten und fangen dann an, mit dir zu tanzen. Es dauert eine gewisse Zeit, aber schließlich tanzen sie dich zu Tode. Putins Regierung wurde Zeuge der Proteste in Weißrussland im vergangenen Jahr und hatte Angst, dass sie sich auch auf Russland übertragen könnten. Alexey Nawalny war wohl die einzige Person, die in der Lage gewesen wäre, die Menschen zu mobilisieren. Was mit Nawalny gemacht wurde, war letztlich leider unvermeidbar.

Sie äußern sich sehr regierungskritisch. Haben Sie Angst um Ihre eigene Sicherheit?

Ich habe das Gefühl, dass die Literatur mir eine Art Schutzschild bietet. Es sind politische Journalistinnen und Journalisten, die zuerst gejagt werden. Eine Ausnahme bildet hier sicherlich der Fall von Dmitri Bykow, der als satirischer Dichter Putin persönlich angegriffen hat. Im Jahr 2019 wurde er vergiftet. Ich hingegen lasse in „Das perfekte Gift“ Orte und Zeiten unbenannt. Ich wollte nicht, dass das Buch als eine bestimmte Geschichte in einer bestimmten Zeit gelesen wird. Das ist allerdings keine reine Schutzmaßnahme. Vor allem wollte ich damit deutlich machen, dass letztlich jeder Staat eine Maschine ist. Egal, ob diese Maschine Russland, China oder Deutschland heißt.

Abgesehen von Ort und Zeit beschreibt Ihr Roman andere Dinge sehr konkret, etwa ein tödliches Nervengift, das in einem Parfümflakon über die Grenze geschmuggelt wird, oder auch die Arbeit der Geheimdienste. Wie sah Ihre Recherche aus? 

Ich lese und reise viel. Es ist mir wichtig, die Orte zu sehen und zu spüren, über die ich schreibe. In Moskau habe ich einige Chemie-Institute besichtigt, die hinter der Entwicklung des Nervengifts Nowitschok stecken. Außerdem habe ich in KGB-Archiven in Litauen und der Ukraine Dokumente gesichtet und so das Innenleben der Geheimdienste studieren können. So konnte ich sicherstellen, dass die Beschreibungen von geheimdienstlichen Aktivitäten in meinem Roman so realitätsnah wie möglich sind. 

Kann Literatur gegen das Gift der Angst wirken?

Nicht viele russische Autorinnen und Autoren widmen sich in ihren Arbeiten der heutigen Zeit. Die schwierigsten und gefährlichsten, die wirklich heißen Themen werden in der zeitgenössischen russischen Literatur eher selten behandelt. Wir können also nicht sagen, ob die Literatur ein wirksames Gegengift ist – noch nicht. Ich denke schon, dass „Das perfekte Gift“ ein außergewöhnliches Buch ist. Ich hoffe, dass es weitere Autorinnen und Autoren dazu bewegt, das Versteckspiel endlich zu beenden und anzufangen, zu schreiben. Tolstoi, Tschechow und andere russische Literaturgiganten waren sehr reaktionsschnell und realitätsnah – eine Tradition, die wir während der Sowjetzeit verloren haben. Ich möchte versuchen, diese Tradition wieder aufleben zu lassen. Wir sollten der Literatur als Vergrößerungsglas der Realität wieder vertrauen können. Bücher sollten Werkzeuge sein, um die Realität zu verstehen, nicht, um ihr zu entfliehen.

Was wird die Zukunft Ihrer Ansicht nach für Russland bringen?

Einige politische Analystinnen und Analysten prophezeien, Putin geriete ins Wanken. Doch der belarussische Präsident Lukaschenko beweist für mich aktuell das Gegenteil. Er hat die Unruhen in seinem Land überlebt. Und Schritt für Schritt gewinnt er seine ganze Macht zurück. Ein paar Tage lang sah es so aus, als sei Minsk eine freie Stadt. Als säße Lukaschenko irgendwo in einem Hubschrauber, wisse nicht wohin und sei erledigt. Doch das war er nicht. Als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten, durchfuhr die Opposition ein kurzes Zögern. Ein Zögern, das Lukaschenko erkannte und zu nutzen wusste. Jetzt ist er mächtiger und gefährlicher als zuvor. Ich glaube, dass Putin das alles sehr genau beobachtet. Für ihn ereignet sich in Belarus das bestmögliche Szenario. Zwar fürchtet er das, was in der Ukraine passierte, die Maidan-Bewegung mit ihrer mächtigen Opposition. Doch Lukaschenko hat vorgemacht, dass solche Massenproteste überstanden werden können. Putin wird bleiben, denn im Notfall schreckt er vor Gewalt nicht zurück.