UNESCO | Welterbe

Welterbe oder Weide?

Seit 50 Jahren schützt die UNESCO-Welterbekonvention herausragendes Kultur- und Naturerbe. Doch an vielen Orten regt sich lokaler Widerstand

Eine kleine Gruppe von Personen mit schwarzer Hautfarbe steht auf einer grünen Wiese. Die Teil der Gruppe trägt rot/braun karierte Umhänge, der andere Teil braune Umhänge. Eine Personen blickt in die Kamera. Im Hintergrund steht ein Baum dahinter ist ein Abgrund.

Massai am Rande des Nigorongoro-Kraters in Tansania, seit 1979 Weltnaturerbe. Die Regierung will den Tourismus fördern, die Massai sollen umgesiedelt werden

Man muss die Feste feiern, wie sie fallen: Fünfzig Jahre alt wird die UNESCO-Welterbekonvention, die 1.154 Kultur- und Naturerbestätten in ihrer Einzigartigkeit schützt. Ein Jubiläum, auf das die internationale Gemeinschaft rundum stolz sein könnte. Doch für viele mischt sich mehr als nur ein Wermutstropfen in die Champagnerlaune.

Zu den kritischen Beobachtern gehört Stephan Dömpke, Gründer und geschäftsführender Direktor von World Heritage Watch, einem Dachverband internationaler Nichtregierungsorganisationen. „Welterbe – das hat ja erst mal ein durchweg positives Image“, so Dömpke, „da denken alle nur, das ist toll, und hinterfragen es nicht weiter. Genau hingeschaut, wie die Situation vor Ort wirklich ist, wird selten.“ Doch das genaue Hinschauen, auch und gerade am fünfzigsten Geburtstag, wäre laut Dömpke und anderen Beobachtern dringend nötig.

Denn in Wahrheit gehe es bei der UNESCO-Welterbekonvention nicht mehr nur um hehre Werte. Zu politisch und oft auch gegen die Interessen der lokalen Bevölkerung gerichtet seien viele Entscheidungen über bestimmte Welterbestätten. Deshalb fordern Dömpke und andere im Jubiläumsjahr umfangreiche Reformen der Konvention – allen voran die stärkere Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Vergabe des Welterbestatus.

218 der Welterbestätten zählen zum sogenannten Naturerbe. Dort aber steht Naturschutz häufig in Konflikt mit den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung – und bedroht deren Existenz. Zum Beispiel in Tadschikistan. 2007 war Dömpke als Berater für die EU im Pamir-Gebirge unterwegs. Bis heute erinnert er sich an „die furchtbare Armut und die schlimmen Lebensverhältnisse“.

In der kärglichen Hochgebirgsregion leben halbnomadische Hirten aus dem Nachbarland Kirgisistan. Ihre geringen Möglichkeiten der Weide- und Viehwirtschaft wurden weiter eingeschränkt, als das Gebiet 2013 zum Weltkulturerbe erklärt wurde.  „Die Begutachterkomitees für die Welterbestätten glauben oft, die betroffenen Gebiete seien menschenleer. Aber das ist natürlich falsch“, so Dömpke. 

„Oft nutzen Regierungen den Welterbestatus als Vorwand für Verbote und Vertreibung, um eigene Interessen zu verfolgen“

Dabei ist es nicht immer die UNESCO, die mit strengeren Vorschriften zur wachsenden Misere der indigenen Bevölkerung beiträgt. Oft ist die Sachlage komplizierter, nämlich dann, wenn lokale Regierungen den Welterbestatus als Vorwand für Verbote und Vertreibung nutzen, um eigene Interessen zu verfolgen. Hier wird häufig auf den Ngorongoro National Park am Rande der Serengeti in Tansania verwiesen.

Im Frühjahr 2021 führte die lokale Nichtregierungsorganisation PINGO eine Feldstudie zur Situation vor Ort durch, für die sie zahlreiche Indigene befragte. Alle berichteten von Hunger, Elend und Perspektivlosigkeit. Zwar wurde 1959 das Schutzgebiet als „Multiple Land Use Area“ eingerichtet und der Bevölkerung der halbnomadischen Massai Land- und Weidewirtschaft erlaubt. Doch diese Entscheidung revidierte man später.

1979 wurde der Ngorongoro National Park in die UNESCO-Liste des Weltnaturerbes aufgenommen und 1981 als Biosphärenreservat ausgezeichnet. 2010 kam der Titel „Weltkulturerbe“ dazu. Landwirtschaft ist inzwischen in der Schutzzone verboten, auch die Viehherden dürfen in bestimmten Bereichen nicht mehr weiden. Aktuell spitzt sich die Lage weiter zu. Es häufen sich Vorwürfe, wonach die Regierung Tansanias plant, Zehntausende Massai zu vertreiben.

Offiziell wolle man damit auf die Kritik der UNESCO am „angeblich schlechten Zustand“ des Welterbegebietes Ngorongoro reagieren, sagt die Organisation „Rettet den Regenwald“. Doch das Naturschutzargument sei nur ein Vorwand. „In Wirklichkeit soll der Tourismus gefördert werden.“

„Wir stellen immer wieder fest, dass die Rechte der indigenen Bevölkerung, so, wie sie im internationalen Recht verankert sind, nicht eingehalten werden“, sagt auch Chris Chapman, Experte für indigene Menschenrechte bei Amnesty International. Der „free, prior and informed consent“ der Indigenen bei der Entscheidung über Naturschutzgebiete, das Recht auf Anhörung und Zustimmung, werde häufig übergangen.

2017 warnten Gabriel Lafitte, unabhängiger Experte für Tibet, und Kate Saunders von der „International Campaign for Tibet“ eindringlich davor, dem Antrag Chinas nachzugeben und das Hoh-Xil-Gebiet in Tibet zum Welterbe zu erklären – eine Region voller Seen und Wildtiere, so groß wie Dänemark und die Niederlande zusammen.

Der Status würde China nur dazu dienen, die lokale tibetanische Bevölkerung zu vertreiben und seine Pläne für Massentourismus umzusetzen, sagten die Kritiker. Welterbe wurde Hoh Xil trotzdem. Dass sich die UNESCO-Komitees wiederholt über Bedenken hinwegsetzen, erklärt Chris Chapman von Amnesty International so: „Man muss verstehen, dass in den Welterbekomitees ja nicht unabhängige Experten sitzen, sondern Regierungsvertreter und Diplomaten der jeweiligen Länder.“

Auch ganz praktische Interessenkonflikte führen oft zum Streit. So hält die Auseinandersetzung um eine Zugangsrampe an der Akropolis in Athen an. Im Kern geht es darum, was höher zu bewerten ist: die originalgetreue Erhaltung einer Weltkulturerbestätte oder ein barrierefreier Zugang für Ältere und Menschen mit Behinderung.

„Die Liste der Welterbestätten soll nicht immer ,inflationärer‘ werden“

Die UNESCO-Administration in Paris tut sich mit offiziellen Stellungnahmen zu den Problemen schwer. Immerhin kam es aber Ende vergangenen Jahres auf Initiative von World Heritage Watch in Potsdam zu einem Treffen mit den „World Heritage Pioneers“ – ehemaligen Direktoren und Direktorinnen des UNESCO-Welterbezentrums sowie hochrangigen ehemaligen Mitarbeitern der Beratergremien ICOMOS (Internationaler Denkmalrat) und IUCN (Weltnaturschutzunion).

Das Ergebnis ist ein Zwölf-Punkte-Plan zur Reform der Konvention, für den die Pioneers laut einer Pressemitteilung „viel Verständnis zeigen“. Neben einer Beteiligung der Zivilgesellschaft wird vor allem die „Entpolitisierung“ der Welterbe-Entscheidungen gefordert. Weitere Reformpunkte sind Pläne für nachhaltigen Tourismus und Einrichtung von Pufferzonen rund um die Welterbestätten, zum Schutz von Sichtachsen zum Beispiel.

Darüber hinaus solle die Liste der UNESCO-Welterbestätten nicht immer „inflationärer“ werden. Der Vorschlag: Staaten in Europa, die schon über viele Stätten verfügen, könnten weitere Anträge für eine Weile aussetzen zugunsten anderer Weltgegenden.

Es bleibt abzuwarten, ob das Jubiläum nun außer Feierstimmung auch mehr Bewusstsein für die Probleme rund um die Welterbestätten und Raum für Lösungen schafft. Wie sehr das Thema mit aktuellen politischen Entwicklungen verknüpft ist, zeigt die jüngste Verlautbarung von World Heritage Watch. Angesichts des Ukraine-Konfliktes dürfe Russland nicht länger dem Welterbekomitee vorsitzen, heißt es da. Doch entschieden wurde darüber bislang noch nicht.

Lediglich die für Juni 2022 geplante Sitzung des Komitees wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Sie sollte ursprünglich im russischen Kasan unter russischer Präsidentschaft stattfinden. World Heritage Watch hatte außerdem befürchtet, dass es im Ukraine-Krieg zu Zerstörungen von Welterbestätten wie der Sophienkathedrale in Kiew kommen könnte. Das habe sich zum Glück bislang nicht bewahrheitet, so Stephan Dömpke. Doch die Sorge um das kulturelle Erbe in der Ukraine bleibe mit dem anhaltenden Krieg bestehen.