Fortbildung | Ukraine

„Wer braucht eine Ausbildung während des Krieges?“

Projector ist ein privates ukrainisches Bildungsinstitut für Kreative. Seit Kriegsbeginn ist die Nachfrage überraschend hoch – nicht zuletzt weil viele Menschen neue Jobs brauchen, erzählt Produktmanagerin Anna Chernysh
In einem dunklen Raum sitzt ein Mann mit gelbem Pullover und einem Laptop auf den Knien. Er schaut nachdenklich in die Luft, seitlich wird die Szene von einem fahlen Licht beschienen

Ein Mitarbeiter von Projector während eines Stromausfalls

Interview von Atifa Qazi

Anna Chernysh, wie hat der Ausbruch des Krieges Ihre Arbeit bei Projector beeinflusst?

Projector bietet Onlinekurse für die Kreativbranche an. Wir bilden in den Bereichen Grafik- und Interfacedesign, bildende Kunst und Animation sowie kreative Werbung und Marketing aus.

Vor dem Krieg stammten ein paar Teilnehmerinnen und Teilnehmer – weniger als fünf Prozent – auch aus Ländern wie Belarus, Russland oder Kasachstan. Aber seit Februar 2022 haben wir unsere Website für russische und weißrussische IP-Adressen gesperrt.

Jetzt ist unser Publikum hauptsächlich ukrainisch. Heute sind etwa achtzig Prozent unserer Studierenden immer noch in der Ukraine, der Rest lebt an verschiedenen Orten, zum Beispiel in Warschau, Berlin, London oder Lissabon. Im ersten Monat nach der Invasion stellten wir fast unsere gesamte Arbeit ein, weil die meisten unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ehrenamtlich tätig waren.

Wir zahlten unserem Team in Kiew die Gehälter in bar und konzentrierten uns auf die Evakuierung und die Unterbringung aller Menschen an sicheren Orten. Die Ungewissheit hat uns eine Zeit lang gelähmt. Unser Team konnte sich die Zeit frei einteilen, aber einige Kurse wurden fortgesetzt, wenn die Lehrer und Schüler es wollten.

„Wir haben die Kurse so umstrukturiert, dass die Studierenden in ihrem eigenen Tempo lernen konnten“

Zu Beginn des Krieges gab es abends oft Stromausfälle. Daher haben wir die Zeiten der Abendkurse so angepasst, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für unseren Unterricht kein Licht einschalten mussten.

Wie kommen Sie jetzt mit den ständigen Stromausfällen zurecht?

Die Stromausfälle begannen im Oktober und waren bis vor Kurzem ziemlich heftig. Wir haben die Kurse so umstrukturiert, dass die Studierenden in ihrem eigenen Tempo lernen konnten und sich die Vorlesungen dann anschauten, wenn sie konnten.

Wir haben sie in den Städten auf Orte hingewiesen, die Co-Working-Spaces mit Generatoren anbieten. Trotz der schwierigen Umstände setzten die meisten Studierenden ihre Ausbildung fort, und es gingen immer wieder neue Bewerbungen ein. Wir hatten nie wirklich einen Mangel an Nachfrage.­­

In einem gekachelten Badezimmer sitzt eine junge Frau auf einem Hocker an die Wand gelehnt, ihr Fuß stützt sich auf der Badewanne ab. Sie schaut in den Laptop, den sie auf den Knien hat. Sie trägt ein kobaltblaues sportliches T-Shirt und lange offene Haare.

Bogdana Molochko, eine Kursleiterin bei Projector arbeitet vom Badezimmer aus, das während des Luftalarms in Kiew als Schutzraum dient

Wie organisieren Sie Ihr Team?

Der Großteil unseres Teams befindet sich nach wie vor in Kiew, während zehn von hundert Mitarbeitern derzeit vom Ausland aus arbeiten. Auch die Hälfte unserer Lehrkräfte ist im Ausland und die andere Hälfte in der Ukraine.

„Wir stellten fest, dass viele Menschen ihre Arbeit verloren hatten und einen Berufswechsel anstrebten oder online arbeiten wollten“

Seit der Coronapandemie kommunizieren wir hauptsächlich online über Slack. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kiew verfügen über zwei kleine Büros mit Generatoren, die sie während der Stromausfälle nutzen können, ansonsten arbeiten sie meist aus dem Homeoffice.

Wie geht es bei Projector weiter?

Vor dem Krieg richtete sich unser Programm hauptsächlich an Leute, die ihre Fähigkeiten verbessern oder sich spezialisieren wollten. Doch seit April 2022 haben wir uns immer wieder Fragen zu unserer Ausrichtung gestellt. Wie können wir uns an die neue Realität anpassen? Wer braucht schon eine Ausbildung während des Krieges?

Wir stellten fest, dass viele Menschen ihre Arbeit verloren hatten und einen Berufswechsel anstrebten oder online arbeiten wollten. Daraufhin haben wir begonnen, Kurse für Anfänger anzubieten.

„Manchmal sehen wir, dass Ukrainer während der Raketenangriffe und Luftangriffe unsere Kurse kaufen - das ist ermutigend“

Da den meisten Menschen das Geld fehlt, um die Umschulung zu bezahlen, haben wir eine Stiftung gegründet. Sie wird von Technologieunternehmen wie Google, Visa und Readdle finanziert, seit kurzem ist Meta auch dabei und hat für die Ausbildung von 120 Frauen gespendet.

Letztes Jahr nahmen fast fünfhundert Studierende kostenlos an unseren Kursen teil, und wir hatten mehr Studierende als vor dem Krieg. Außerdem haben wir auch Angebote zum Thema berufliche Orientierung mit Veranstaltungen und Inhalten, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern helfen sollen, eine neue Tätigkeit zu finden, sei es in der Ukraine oder im Ausland.

Das Spannendste für das gesamte Institutsteam war das Gefühl, dass sich die Menschen selbst während des Krieges um ihre Bildung kümmerten. Ich kann nicht ausdrücken, wie wichtig es für jeden von uns ist, zu sehen, dass die Ukrainer ihren Geist nicht aufgeben.

Manchmal sehen wir, dass Ukrainer während der Raketenangriffe und Luftangriffe unsere Kurse kaufen - das ist ermutigend. Deshalb wissen wir, dass wir gewinnen werden. Denn wir glauben an die Kraft der Bildung selbst in den dunkelsten Zeiten.