Oper | Ukraine

„Wir bekommen enormes Feedback“

Im Krieg scheint es aussichtslos, ein Opernhaus am Laufen zu halten. Vasyl Vovkun, Direktor der Nationalen Oper in Lwiw, berichtet wie es trotzdem funktioniert
Auf einer Bühne sitzen zwei Frauen und ein Mann in antiken Kleidern an einem Tisch, hinter ihnen stehen Chormitglieder und Tänzer. Alle tragen Kostüme und sind geschminkt

Szenenbild der Oper „The Terrible Revenge“ von Yewhen Stankowytsch, die am 25. November 2022 als erste Produktion nach der russischen Invasion Premiere hatte

Interview von Gundula Haage

Vasyl Vovkun, Sie sind Generaldirektor des Nationalen Opern- und Balletttheaters in Lwiw. Was hat sich an Ihrem Haus verändert, seit Russland vor einem Jahr in die Ukraine einmarschiert ist?

In den ersten Tagen nach dem Einmarsch waren wir alle in Panik. Wir waren verwirrt und hatten Angst davor, was passieren würde. Aber wir haben schnell gemerkt, dass wir am besten mit diesem Trauma fertig werden können, wenn wir aktiv werden.

Etliche unserer Mitarbeiter schlossen sich der Territorialverteidigung an. Unsere Kostümabteilung fing an, Schutzkleidung für unsere Soldaten zu nähen.

Bald fühlte es sich an, als würde Lwiw zu einem Babylon werden. Menschen aus allen Landesteilen kamen hierher, denn unsere Stadt liegt im Westen der Ukraine. Sie war einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Geflüchtete.

Die Hotels konnten nicht alle Menschen unterbringen. Deshalb haben viele Familien aus unserem Team Flüchtlinge bei sich aufgenommen.

„Wir wollten unserem Publikum zwei Stunden Zeit schenken sich hinzusetzen und die Musik zu genießen“

Da ich der Direktor der Oper bin, kamen viele Menschen in mein Büro. Mir wurde klar, dass wir uns wieder an die Arbeit machen müssen – sonst würden wir verrückt werden. Etwa einen Monat nach Beginn der Invasion, im April, nahmen wir das Programm wieder auf.

Haben Sie das Programm angepasst, als die Oper wieder mit ihrem Betrieb begann?

Ja, natürlich. Zunächst einmal haben wir beschlossen, alle Ballette und Opern russischer Komponisten zu streichen. Als wir die Arbeit wieder aufnahmen, starteten wir mit kurzen Konzertprogrammen, um zu sehen, wie es läuft.

In einem klassizistischen Theaterfoyer kontrolliert ein Sicherheitsmitarbeiter in schwarzer Kleidung einen ankommenden Besucher mit Metalldetektor

Im Nationalen Opern- und Balletttheater in Lwiw kontrolliert im April 2022 das Einlasspersonal die Besucher mit Metalldetektoren, um sicherzustellen, dass niemand Waffen mit in die Vorstellung bringt

Wir versuchten anfangs, ein eher leichtes Programm anzubieten, um den Menschen eine Pause von der schrecklichen Situation, in der sie lebten, zu verschaffen. Wir wollten ihnen wenigstens zwei Stunden Zeit schenken, sich hinzusetzen, die Musik zu genießen und sich vorzustellen, dass sie in Sicherheit sind und dass alles in Ordnung ist.

Wir hatten im vergangenen Jahr sogar zwei Uraufführungen, eine Oper und ein Ballett. Natürlich hat das Programm manchmal einen Bezug zu unserer Realität, wie zum Beispiel unsere neue Oper „The Terrible Revenge“ von Yewhen Stankowytsch.

„Arbeit ist der beste Weg, um mit Traumata umzugehen. Und wir haben auch gelernt, dass die Menschen Kunst brauchen“

Aber andere Werke, wie das moderne Ballett „Erkenne dich selbst“, das im Dezember Premiere hatte, bieten eher eine Flucht aus der aktuellen Situation. Es ist unserem berühmten ukrainischen Philosophen Hryhorii Skovoroda gewidmet.

Wie fühlt es sich für Sie an, in Kriegszeiten Kunst zu schaffen?

Es ist schwer. Am Anfang hatten wir einfach nur schreckliche Angst. Es gibt andauernd Bombenalarm, dann müssen wir die Show abbrechen und in den Bunker rennen. Aber wir mussten uns daran gewöhnen, so zu leben. Das ist unsere neue Realität.

Wir hatten auch einen schlimmen Schicksalsschlag in unserem Team. Unser musikalischer Leiter Ivan Cherednichenko hat seine Mutter und seinen Vater verloren, sie wurden während der russischen Besetzung von Irpin getötet. Das war nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern auch ein Schock für das ganze Team, denn es war eine schreckliche Gräueltat.

Aber wir haben erkannt, dass die Arbeit der beste Weg ist, um mit Traumata umzugehen. Und wir haben auch gelernt, dass die Menschen Kunst brauchen. Wir bekommen ein enormes emotionales Feedback von unserem Publikum. Das haben wir vor dem Krieg so nicht erlebt.

„Uns ist klar, dass wir ein großes Risiko eingehen, denn in einem Theater kommen viele Menschen zusammen“

Welche Sicherheitsvorkehrungen haben Sie getroffen?

Uns allen ist klar, dass wir ein großes Risiko eingehen, denn in einem Theater kommen viele Menschen zusammen. Und wir wissen, dass die Russen in ihrer grausamen Art auf solche Orte abzielen. Wir haben unsere Arbeit an die Bedingungen des Kriegsrechts angepasst. Statt tausend Karten verkaufen wir nur fünfhundert, denn das ist die Kapazität unseres Bunkers.

Am Eingang kontrolliert spezielles Personal die Taschen der Leute. Wir haben Metalldetektoren, um sicherzustellen, dass niemand Waffen in das Theater mitbringt. Die Sicherheit unseres Publikums hat für uns Priorität.

Hatten Sie technische Probleme aufgrund von Stromausfällen?

Ja, sie haben uns schwer getroffen. Die ersten russischen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur erfolgten genau in der Zeit, als wir unsere Opern- und Ballettpremieren vorbereiteten. Am Anfang war es sehr schwierig, während der Stromausfälle zu planen. Aber wir haben unsere Arbeitsweise angepasst.

Wir hatten einen Zeitplan für die Stromausfälle und verlegten unsere Proben und Aufführungen entsprechend. Dank unserer Partner, auch aus Deutschland, haben wir einen leistungsstarken Generator bekommen, mit dem wir zur Not während eines Blackouts weiterarbeiten können.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Wir haben viele Pläne. Zum Beispiel wollen wir ein großes ukrainisches Festival für Kammermusik veranstalten. Ganz allgemein konzentrieren wir uns auf ukrainische Komponisten. Wir werden zum Beispiel ein neues Ballett aufführen, das auf dem Roman „Schatten vergessener Ahnen“ des berühmten ukrainischen Autors Mychajlo Kozjubynskyj basiert.

Wenn ich an das vergangene Jahr zurückdenke, besteht die wichtigste Veränderung meines Erachtens darin, dass unser Orchester vor jeder Vorstellung die ukrainische Nationalhymne spielt. Das gesamte Publikum steht auf und singt gemeinsam. Das schafft ein unglaubliches Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das hilft uns, zu leben und zu kämpfen.