Sachbuch | Migration

„Seien Sie bereit, den Ort zu wechseln“

In seinem neuen Buch „Move“ stellt sich Parag Khanna eine Zukunft vor, in der Migration selbstverständlich geworden ist

Eine Gruppe von Menschen unterschiedlichen Alters, mit Rucksäcken bepackt, läuft auf einem Weg. Die Gruppe hebt sich wie ein Schattenspiel vom orange-braunen Hintergrund ab.

"Zeitalter der Migration"

Seine Biografie macht den indisch-amerikanischen Politikwissenschaftler Parag Khanna fast schon zu einem Experten für Migration: Geboren ist er in Indien, aufgewachsen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den USA und Deutschland, als Erwachsener hat Parag Khanna die ganze Welt bereist; derzeit lebt er in Singapur.

Migration gehörte immer zur Menschheit, sei es aus wirtschaftlichen, politischen oder auch früher schon aus klimabedingten Gründen, so etwa in der Kleinen Eiszeit. Dass wir in einem „Zeitalter der Migration“ leben (so der Untertitel von Parag Khannas neuem Buch), hat mit der Digitalisierung ebenso zu tun wie mit dem Klimawandel. Parag Khanna macht die Bedrohung durch diesen sehr anschaulich. So sind allein in den USA vier der wichtigsten Städte akut von der Erderwärmung bedroht: New York und Miami versinken im Meer, Los Angeles geht das Wasser aus und San Francisco gerät durch die zunehmenden Waldbrände an seine Grenzen. Auch Venedig ist dem Untergang geweiht, Italien wird zur Wüste, und in tiefliegenden Gebieten wie Bangladesch oder Indonesien werden Millionen, ja Milliarden von Menschen gezwungen sein, in höher gelegene oder nördlichere Teile der Erde auszuwandern. Auch die Gewinner des Klimawandels benennt Parag Khanna: In Kanada, Russland, Skandinavien oder Grönland wird sich die bewohnbare Fläche ausweiten, auch der Rust Belt der USA könnte als Klimaoase mit reichlich Trinkwasser vom Klimawandel profitieren und Talente anlocken für eine angepasste Industrie, die Elektroautos und 3D-Drucker für den modularen Wohnungsbau herstellt. Wer in der Welt der Zukunft überleben oder erfolgreich sein will, dem rät der Autor: „Seien Sie bereit, den Ort zu wechseln.“

Parag Khanna entwirft vier globale Zukunftsszenarien, die einander allerdings nicht ausschließen, sondern vielmehr zeitgleich an verschiedenen Orten stattfinden könnten. Ein Szenario sieht vor, dass sich die reichen Länder des Nordens verbünden, um Migranten fernzuhalten, zugleich jedoch den Süden mit Technologie ausstatten, damit die Menschen möglichst lange dort bleiben. Denkbar wäre, so ein zweites Szenario, auch ein neues Mittelalter: Die Metropolen schotten sich gegen ländliche Gegenden ab, die im Chaos versinken. Ein weiteres Modell sieht den Zusammenbruch der Weltwirtschaft voraus: Die Eliten ziehen sich in fruchtbare Gegenden zurück, es gibt Bürgerkriege um Wasser. Eine lebbare Zukunft gibt es nur nach dem vierten Modell: „Ein Archipel von nachhaltigen Siedlungen im hohen Norden nimmt zwei Milliarden Klimamigranten auf, internationale Agenturen ermöglichen die reibungslose saisonale Migration.“ Dann soll es einen Aufschwung geben: Eine auf „humanzentrierter Innovation“ basierende Wirtschaft gewährt allen Menschen ein Auskommen.

„Ausgerechnet jene Länder, denen Arbeitskräfte fehlen, verfolgen eine Anti-Einwanderungspolitik“

Parag Khannas Argumentationen basieren auf der Annahme, dass alles technisch Machbare umgesetzt wird: In seinen Zukunftsvisionen gibt es Häuser aus dem 3D-Drucker, mobile Krankenstationen und urbane Landwirtschaft, immer mehr Menschen leben in kompakten, mobilen Einheiten. Der unbewohnbar gewordene Hitzegürtel wiederum könnte für eine klimaneutrale Energieversorgung genutzt werden: In der Sahara, dem US-amerikanischen Südwesten, den Mittelmeerländern und der Wüste Australiens würden gigantische Anlagen Sonnenenergie und Erdwärme gewinnen, die dann über den ganzen Erdball möglichst gerecht verteilt würden.

Je länger man dieses erstaunlich gut gelaunte Sachbuch über die drohenden Katastrophen liest, desto mehr beginnt man allerdings zu zweifeln. Das alles wäre wohl möglich, manche Ideen sind bestechend – allerdings nur, wenn die Menschen nicht mehr in Nationen denken, sondern ihr Handeln auf das langfristige Wohl der gesamten Menschheit und des Planeten ausrichten würden. Oder wenn die Menschen kein Problem damit hätten, sich mit Fremden zu einem urbanen Schmelztiegel zu vereinen. Und wenn sie Klimaflüchtlinge und andere Migranten in ihrem Land willkommen heißen würden.

Mit Zweifeln jedoch hält Khanna sich in seiner Argumentation ungern auf, das Problem des neurechten Populismus etwa erledigt er gleich in den ersten Kapiteln: „Die neuen Nationalisten erreichen weitgehend eine ältere Generation, die bereits mit einem Fuß im Grab steht – und werden ihr auch dorthin folgen.“ Er sieht „die erste Generation postnationaler Europäer“ heraufziehen und ruft in einer Kapitelüberschrift: „Jugendliche der Welt, vereinigt euch!“ Auch habe Europa kein Migrationsproblem, sondern nur ein Assimilationsproblem, „das durch eine kluge Politik sozioökonomischer Maßnahmen gelöst werden kann“. Dass von dieser klugen Politik derzeit kaum irgendwo auf der Welt etwas zu sehen ist (abgesehen vielleicht von Kanada), scheint den Autor nicht zu stören.

Parag Khanna macht es sich mit seiner verführerisch widerspruchsfreien Argumentation sehr leicht. Er sieht eine große Ironie darin, „dass ausgerechnet jene Länder eine Anti-Einwanderungspolitik verfolgen, die den größten Arbeitskräftemangel haben“, der Populismus sei daher „nur ein kurzes Aufbäumen angesichts des erdrückenden Ungleichgewichts zwischen alten und jungen Bevölkerungsgruppen und des Mangels an Ärzten und Pflegekräften, IT-Ingenieuren und Bauarbeitern“. Er rechnet damit, dass die Grenzen in den kommenden Jahrzehnten aufweichen werden, „damit die Menschen an Orte wechseln können, wo ihre Fertigkeiten am dringendsten gebraucht werden“.

Khanna blendet dabei alles aus, was seinem Migrationsoptimismus in die Quere kommen könnte. Die Zukunft Ostdeutschlands etwa malt er in rosigen Farben: Die Demografie werde dafür sorgen, dass die AfD das Schicksal erleidet, das sie verdient. „Und vielleicht wird es, sobald diese Fremdenfeinde von uns gegangen sind, gar nicht mehr lange dauern, bis die verlassenen Städte des Ostens von einer Million oder mehr Migranten besiedelt werden.“ In noch größerem Maßstab kann Khanna sich die Besiedlung der „Klimaoase“ Grönland vorstellen: Die Bevölkerung könnte von derzeit 60.000 auf sechs Millionen „oder gar sechzig Millionen Menschen“ anwachsen. Die Infrastruktur- und Versorgungsprobleme, die sich daraus ergeben würden, wischt Khanna mit leichter Hand vom Tisch: „Verbesserte Logistik wird dafür sorgen, dass das Angebot die Nachfrage erfüllt.“

Gern spricht Parag Khanna von der weltweiten „Jagd nach Talenten“: „Jede Krise in einem Land ist eine Chance für stabilere Länder, Talente abzuwerben.“ Die weitgehend freiwillige Migration der Talentierten und Wohlhabenden findet allerdings unter ganz anderen Bedingungen statt als die Fluchtbewegungen der Armen (von den Alten und Kranken ganz zu schweigen): Sie haben keine andere Wahl, als dem Westen zu dienen, für ihre Talente interessiert sich niemand. „Wie die USA braucht Europa ungelernte Migranten, um seine Infrastruktur zu erhalten, Müll zu sammeln, Senioren zu betreuen und unzählige andere Arbeiten zu erledigen. Europa ist abhängig von polnischen Klempnern, rumänischen Erntehelfern und afrikanischen Kanalarbeitern.“

„Die Armen haben keine andere Wahl, als dem Westen zu dienen“

Rumänien hat seit dem EU-Beitritt 2007 ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Was die Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung für die Herkunftsländer heißt, wer dort die Alten pflegt, die Kinder betreut, die Erdbeeren erntet, das interessiert Parag Khanna nicht. Er spricht etwa von „Milliarden Angehörigen der asiatischen Mittelschicht“, die auswandern wollen, und fügt an: „Die Welt ist darauf angewiesen, dass diese ruhelosen jungen Asiaten in Bewegung bleiben.“ Solche Formulierungen verraten den kolonialistischen Blick des Westens. In Khannas Weltsicht ist es selbstverständlich, dass Migranten aus den ärmeren Ländern ihr Leben in den Dienst der reicheren Gesellschaften stellen. Er beschreibt etwa ein Integrationsprojekt in Italien, in dem Migranten aus Nigeria bis Pakistan „bügeln, kellnern und einen Müllwagen bedienen“ lernen, und wie zum Trost fügt er an: „In der nächsten Generation werden dann ihre Kinder die Ärzte und Sportler des Landes sein.“

Kaum je geht es um die menschlichen Kosten der Migration: Die Not der Flüchtlinge, die mit der Heimat auch ihren Status verloren haben, interessiert Khanna genauso wenig wie die Angst und der Fremdenhass der Menschen in den Aufnahmeländern, die sich mit Händen und Füßen gegen die Einwanderer wehren. Mit keinem Wort erwähnt er das ungeheure, von der EU politisch gewollte Elend der Menschen in Flüchtlingslagern wie Moria, auch die illegalen Pushbacks an den EU-Außengrenzen kommen in seinem Buch nicht vor. Er belässt es bei pauschalen Bemerkungen zur verfehlten Migrationspolitik der EU.

Was ist ein solches Buch wert? In den USA ist Parag Khanna, der sich einen „kosmopolitischen Utilitaristen“ nennt, keineswegs unumstritten. Anlässlich eines früheren Buchs hat ihn etwa Evgeny Morozov einen „intellektuellen Hochstapler“ genannt und ihm Verachtung für Demokratie und Menschenrechte vorgeworfen. In vielem trifft dies auch für dieses Buch zu. Es gibt viele sonnige, nahezu inhaltsleere Sätze: „Unablässig bauen wir Konnektivität über den ganzen Planeten auf, und wir nutzen sie jetzt und in Zukunft.“ „Wir werden die Möglichkeiten unserer vernetzten Geografie voll ausschöpfen, um die Bevölkerung unseres Planeten dynamisch zu optimieren“. „Je mehr junge Menschen in Schmelztiegeln verschmelzen, desto mehr werden kosmopolitische Identitäten unsere gemeinsame Zukunft bestimmen.“

Was man von Khanna lernen kann, ist das Denken im globalen Maßstab. Für ihn sind Grenzen von Nationen etwas Vorläufiges. Er imaginiert Lösungen für die ganze Menschheit, und er zeigt eindrücklich auf, welche Migrationsbewegungen der Klimawandel in Gang setzen wird. Doch weil er alles daransetzt, uns auch dann Optimismus zu vermitteln, wenn man an der Realität verzweifeln möchte, kann man sich beim Lesen gut fühlen.

Sobald man sich die Szenarien allerdings genauer vorstellt, ist es mit dem billigen Optimismus vorbei: Wo etwa würden die sechzig Millionen Menschen wohnen, die aus Afrika, Indien oder Südeuropa nach Grönland einwandern sollen? Wie würden sie versorgt – und was würden die grönländischen Inuit dazu sagen? In Khannas Darstellung besteht die globale Migration nur aus Gelegenheiten und Herausforderungen. Er tut so, als gehöre die Welt uns allen – und das ist die Attraktivität seines durchaus anregenden Denkens. Nur macht er die Rechnung ohne die Menschen: Sie werden bei ihm zu einer Manövriermasse, die, wie in einem Planspiel, den globalen Kräften von Klima und Arbeitskräftemangel folgt. Khannas Visionen sind oft nicht nur realitätsfern, sondern auch erstaunlich apolitisch. Und weil er die politischen Verwerfungen, die unsere Gegenwart prägen, ignoriert und verharmlost, kann uns sein Buch auch kaum dabei helfen, die Zukunft zu gestalten.

Move. Das Zeitalter der Migration. Von Parag Khanna. Rowohlt Berlin, 2021.