Literatur | Frankreich

Im französischen Hinterland

Mathias Énard betrachtet in seinem neuen Roman das Landleben im 21. Jahrhundert wie eine fremde Kultur

Ein Floß fährt auf einem Fluss. Eine Frau in weißer Kleidung sitzt auf dem Floß. Ein Mann mit Zylinder und schwarzem Mantel steuert das Floß. In der Mitte steht ein riesiger dreiflammiger Kerzenleuchter.

Savoir-vivre: Bootspartie auf einem Kanal im französischen Département Deux-Sèvres

Tiefsinnige Meditationen über den Kreislauf des Lebens sind eigentlich nicht die Spezialität des Protagonisten in „Das Jahresbankett der Totengräber“. David Mazon kommt aus Paris, ist 29 Jahre alt und Doktorand der Anthropologie. Die hochtrabende These des Großstädters: Demografische Diversität findet man heute nicht mehr in der Großstadt, sondern auf dem Dorf.

Also zieht er für seine Feldforschung in eine kleine Ortschaft im Département Deux-Sèvres, ein von Sümpfen beherrschtes Gebiet im Hinterland der Atlantikküste. Seit Jahrhunderten ist die Gegend von Tausenden kleinen Kanälen durchzogen, auf denen die Bauern ehedem in kleinen Kähnen die Kühe einzeln auf die Weiden schipperten. Inzwischen gibt es in dem Dorf eine Neubausiedlung mit Einfamilienhäusern. Die einzige verbliebene Dorfkneipe ist das Anglercafé, in dem der dicke Thomas Anisschnaps ausschenkt.

In seinen Tagebuchaufzeichnungen hält David die (eher spärlichen) Fortschritte seiner Recherche fest. Nach und nach lernt er die Dorfbewohner kennen, die tatsächlich recht unterschiedlich sind: Zum Kartenspielen gesellt sich zu den üblichen Verdächtigen aus dem Anglercafé, den Alteingesessenen, ein Künstler, der den unerschwinglichen Quadratmeterpreisen in Paris und wahrscheinlich auch einer Midlife-Crisis entflohen ist und sich nun einen alten Hof umgebaut hat, um dort seine monströsen Bildwerke zu malen.

Ein wohlhabendes älteres Ehepaar aus England hat sich ebenfalls hier niedergelassen – er genießt die Abgeschiedenheit auf dem Land, sie schätzt hingegen die Geselligkeit. Besondere Aufmerksamkeit schenkt David der etwas ruppigen 35-jährigen Lucie, die mit ihrem Exfreund Biogemüse züchtet. Nebenbei kümmert sie sich um ihren Cousin Arnaud, genannt Nono, der sich als Idiot savant des Dorfes auf das Herunterbeten von Jahreszahlen verlegt hat.

Die Anzahl der Figuren nimmt fast tolstoische Ausmaße an. Dass Monsieur Martial, der Dorfvorsteher, zugleich das örtliche Bestattungsunternehmen führt, ist da sicherlich kein Zufall. Im Französischen sind die titelgebenden Totengräber, die „fossoyeurs“, ein feststehender Begriff dafür, dass „etwas zu Grabe getragen“ wird – zum Beispiel eine Lebensart.

„Im Vergleich zu seinen früheren Büchern ist dieser Roman für Énard ein Heimspiel“

Man beginnt gerade, sich mit Davids Schreibblockaden zu langweilen, da wechselt der Roman in die Vogelperspektive. Die Erzählung folgt nun den Seelen, die im Tod prompt wiedergeboren werden und zwar entsprechend ihrem Lebenswandel: Die Würmer im Badezimmer, die David zur Verzweiflung bringen, waren zuvor üble Gesellen. Der im letzten Jahr verstorbene Dorfpfarrer tobt nun als Wildschwein durch die Felder.

Nono erahnt in seinen Träumen eine Spur seiner früheren Leben und verdankt seine Zahlenbegabung einem seiner seelischen Vorfahren. Andere wie der behäbige Kartenspieler Patarin sind hingegen jedes Mal, wenn sie neu ins Rad des Lebens geworfen werden, mit derselben blinden „Gewissheit bei der Sache“.

Es ist ausgerechnet diese buddhistische Philosophie, die Énard dazu einlädt, in die französische Vergangenheit einzutauchen. Denn die Seelen werden auch in die Zeit des römischen Reiches oder der Hugenottenkriege hineingeboren. Doch der Blick geht auch nach vorn: Das 21. und 22. Jahrhundert wird die „Zeit der großen Auslöschung“ genannt, auf die erst in weiter Zukunft eine neue Blütezeit folgen wird.

Angetrieben scheint dieses karikatureske Laufrad des Lebens von einer fast allgegenwärtigen Sexualität und Geilheit. Echte Liebe glänzt in diesem Buch durch Abwesenheit – was die Lektüre streckenweise etwas deprimierend macht.

Nur einmal im Jahr steht das Rad still: Am Tag des Jahresbanketts der Totengräber. In ihrer schier surrealistischen Bombastik regen die Schilderungen des Banketts zwar tatsächlich den Appetit an, sodass man das Buch liebend gerne aus der Hand legt, um sich eine Schnitte mit Camembert zu machen. Mit den hin und wieder eingefügten „Chansons“, Kurzgeschichten, die französische Volkslieder nacherzählen, lässt sich nur bedingt etwas anfangen.

„Die Anzahl der Figuren nimmt fast tolstoische Ausmaße an. Dass der Dorfvorsteher auch das Bestattungsunternehmen führt, ist kein Zufall“

Keine Frage, Mathias Énard kann wunderbar schreiben. In seinem Bestsellerroman „Kompass“, mit dem er 2015 den Prix Goncourt gewann, verbringt ein Experte für arabische Kultur eine schlaflose Nacht, weil er überraschend einen Brief von seiner Kollegin und großen Liebe Sarah bekommen hat (die im Übrigen den Buddhismus für sich entdeckt hat).

Schwermütig sinnt er seinen Gedanken und Erinnerungen an ein Syrien vor dem Bürgerkrieg nach. Als Leser erfährt man so interessante Dinge über die arabische Dichtkunst, die Geschichte der Orientalistik als Disziplin und prekäre Anstellungsverhältnisse in den Geisteswissenschaften – Énard hat selbst eine Karriere auf diesem Feld angestrebt und mehrere Jahre im Nahen Osten gelebt. „Kompass“ gibt einen echten Einblick in die Begeisterung und Liebe für (eine) Kultur.

Im Vergleich zu seinen früheren, in fremde Regionen entführenden Büchern ist dieser Roman für Énard ein Heimspiel. In der Kreisstadt Niort ist er aufgewachsen. Auch mit der ausführlichen Beschreibung der kulinarischen Köstlichkeiten scheint der Autor ein eigenes Lieblingsthema aufzugreifen: In Barcelona, wo er lebt, betreibt Énard das libanesische Restaurant Karakala.

Am Ende des Buches sagt der junge Anthropologe David einmal einen Satz, den man auch auf den Roman selbst beziehen könnte: Über ein Interview, das er im Rahmen seiner Recherchen mit Lucies senilem Großvater führt, stöhnt er, dass diese Erfahrung „zeitaufwendig“, „schwer verdaulich“ und doch zugleich „unersetzlich“ war.

Holger Fock und Sabine Müller, den hervorragenden Übersetzern dieser fast 500 Seiten, gebührt nicht nur großer Respekt, sondern auch eine gewisse Portion Mitleid. Dieses Jahresbankett ist wortwörtlich keine leichte Kost.

„Unersetzlich“ – nämlich bizarr und unvergleichlich – ist der Roman trotzdem. Durch die Linse buddhistischer Philosophie und mittels des literarischen Überschwangs, den man vom Magischen Realismus lateinamerikanischer Schriftsteller wie Roberto Bolaño kennt, erzeugt Énard ein skurriles Panorama einer europäischen Gesellschaft.

Die drängendsten Fragen der Gegenwart – Verstädterung, Traditionsverlust, drohender Klimakollaps –  sind hier auf eine historische Tiefe hin geöffnet, der vielleicht nur mit Magie und Surrealismus beizukommen ist.

„Das Jahresbankett der Totengräber“, von Mathias Énard. Hanser Berlin, 2021.