Fußball | Frankreich

Das weiße Denken

Was es bedeutet, sich im Profifußball nach oben zu arbeiten und trotzdem nicht gleich behandelt zu fühlen

Ein schwarz weiß Porträtfoto des Autors und ehemaligen Profifußballers Lilian Thuram. Er trägt einen Hut und schaut in die Kamera.

Der Autor und ehemalige Profifußballer Lilian Thuram

Die erste Begegnung mit weißem* Denken, an die ich mich erinnere, fand in meiner Heimat Guadeloupe statt. Ich war noch ein Kind und mit meinen Geschwistern am Strand – und Touristen machten Fotos von uns. Wir verstanden nicht, warum. Unsere Eltern sagten uns, dass wir uns nicht fotografieren lassen und auch kein Geld annehmen sollten.

Erst später habe ich verstanden, warum sie damals so wütend waren: Diese weißen Touristen fragten weder uns noch unsere Eltern, ob wir damit einverstanden waren, dass sie uns fotografierten. Was machten sie mit diesen Fotos? Warum wollten sie uns Geld geben? Fotografierten diese Touristen in ihren eigenen Ländern etwa weiße Kinder und gaben ihnen Geld dafür? Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich immer noch fassungslos.

Rassismus in seiner hasserfüllten Form habe ich wieder-um zum ersten Mal erlebt, als ich 1981 nach Frankreich kam, nach Bois-Colombes am Rande von Paris. Damals war ich neun Jahre alt. In der Grundschule beschimpften andere Kinder mich als „dreckigen Schwarzen“. In dem Moment wurde ich, wie ich gerne sage, zum Schwarzen.

„Wer arm war, konnte in ihren Augen nicht anständig sein, sondern war zwangsläufig gewalttätig“

Auf Guadeloupe war ich einfach nur Lilian, meine Mama nannte mich Lico. Erst in Paris wurde mir klar, dass die Bezeichnung „Schwarz“ abwertend gemeint ist und es besser ist, weiß zu sein. White Supremacy, also die Vorherrschaft der Weißen, bildet das Fundament von Rassismus. Und Rassismus ist kulturell gewachsen, genau wie Sexismus.

Im Les Fougères-Viertel von Avon, in der Nähe von Paris, verbrachte ich meine Jugend. Dort lebten Menschen aus allen möglichen Ländern: Portugal, Zaire, Italien, Pakistan, Thailand, Frankreich ... Wir spielten alle zusammen Fußball. Als ich dann aber in die Mannschaft von Fontainebleau wechselte, einer sehr bürgerlichen Stadt, spürte ich, dass einige Kinder mich schief ansahen, weil ich in einem Viertel lebte, in dem die Leute ihrer Meinung nach arm waren. Wer arm war, konnte in ihren Augen nicht anständig sein, sondern war zwangsläufig gewalttätig. Einige hatten sogar Angst, in mein Viertel zu kommen. Das hat mich damals stark verunsichert.

Ich erinnere mich an eine Szene, da war ich noch keine 17. Mit Freunden saß ich draußen herum, in der Nähe der Hochhäuser unserer Cité. Polizisten kamen auf uns zu, fragten, was wir da zu suchen hätten, und forderten uns auf, unsere Ausweise zu zeigen. Die Größeren unter uns protestierten. Sie sagten: „Warum fragen Sie uns nach unseren Papieren? Sie kennen uns doch und wissen, dass wir hier wohnen.“

„Unsere Trainer waren der Meinung, Weiße und Schwarze hätten nicht die gleichen Qualitäten“

Die Polizisten betrachteten uns aber als zukünftige Störenfriede, als Menschen, die man permanent überwachen muss. Ich hatte also sehr früh das Gefühl, dass ich der Polizei nicht vertrauen kann. Im Übrigen hatte meine Mutter mir eingeschärft, dass ich, wenn es ein Problem gibt und jemand die Polizei ruft, so schnell wie möglich verschwinden solle. Erst mit den Jahren wurde mir dann klar, dass die Polizei sich Weißen gegenüber wirklich anders verhält als gegenüber Nichtweißen.  

Im Fußball lernte ich dann einen anderen Aspekt des weißen Denkens kennen. Unsere Trainer waren der Meinung, Weiße und Schwarze hätten nicht die gleichen Qualitäten. Schwarze hätten demnach zwar eine natürliche Begabung, wären aber faul. Man könnte sich nicht auf sie verlassen, weil sie nicht hart genug trainierten, um ihre „angeborenen Fähigkeiten“ weiterzuentwickeln. Wir waren täglich mit dieser Form der Abwertung konfrontiert. Unser Talent war naturgegeben, unsere Schwächen wiederum auf mangelnden Willen zurückzuführen. Wir Schwarzen Spieler wurden stigmatisiert und zugleich wurde stets betont, dass man sich auf die Weißen mehr verlassen könne.

Als ich bereits Profifußballer war, aber noch nicht sehr bekannt, wollte ich mit meiner Verlobten in einem Luxushotel in Paris zu Mittag essen. Ich hatte die nötigen finanziellen Mittel, aber man ging davon aus, dass ich sie nicht hätte – warum? Immer sucht man nach den Gründen für eine solche Ablehnung, für die Verachtung, die einem entgegenschlägt. An Rassismus denkt man dabei zuletzt. Denn es gibt nichts Verletzenderes, als aufgrund seiner Hautfarbe verunglimpft zu werden.

„Dazu kam, dass man Schwarzen Spielern oft Tiernamen gab, wie Gepard oder Panther“

Erst denkt man, man wäre in ihren Augen zu jung oder nicht reich genug. Aufgrund seiner Hautfarbe zurückgewiesen zu werden, tut weh. Wer das nicht persönlich erlebt hat, kann nicht verstehen, wie brutal sich das anfühlt. Man muss mutig sein, um sich dem weißen Denken entgegenzustellen. Als ich jünger war, habe ich mich das nicht getraut und suchte den Grund für die Ablehnung, auf die ich traf, immer wieder bei mir selbst.

Als ich ein junger Fußballer war, hieß es, Schwarze Torhüter oder Innenverteidiger seien nicht konzentriert genug und würden früher oder später Fehler machen. Ich frage mich, wie viele junge Schwarze Spieler aufgrund von Vorurteilen daran gehindert wurden, ihre Karriere zu verfolgen. Im Angriff waren Schwarze Spieler akzeptiert. Es hieß, sie wären schnell und hätten ein Talent zur Improvisation, wären kreativ.

Schwarzen Verteidigern hingegen unterstellte man mangelnde Konzentrationsfähigkeit. Dazu kam, dass man Schwarzen Spielern oft Tiernamen gab, wie Gepard oder Panther. Gar nicht zu reden von dem Mitspieler (natürlich einem Weißen), der oft zu mir sagte: „Stell dir mal vor, ich hätte neben meiner Spielintelligenz auch noch deine physische Stärke, dann wäre ich unschlagbar!“ 

„Das weiße Denken entschuldigt sich grundsätzlich nicht“

Auch als ich in Italien spielte, wurde ich oft mit dem weißen Denken konfrontiert, wenn Journalisten mich fragten: „Was sollte man gegen Rassismus tun?“, als wäre es meine Aufgabe, dafür eine Lösung zu finden, als wäre es allein Sache der Opfer, gegen Rassismus zu kämpfen, als würden die weißen Spieler bei der Verteidigung der White Supremacy keine Rolle spielen. Die Weißen sind nun mal die großen Gewinner der rassistischen Ideologie.

Auch heute bin ich noch mit Rassismus konfrontiert. So fuhr ich zum Beispiel einmal nach Brüssel zu einer Diskussionsveranstaltung mit Studierenden an der Universität. Ich wurde am Bahnhof abgeholt, und wir gingen in ein Restaurant. Es war eines dieser schicken Restaurants, bei denen man am Eingang klingeln muss. Ich ging zur Toilette. Als ich rauskam, trat eine Dame auf mich zu und sagte: „Das ist hier keine öffentliche Toilette!“ Ich sah sie an und sagte, es müsse sich wohl um ein Missverständnis handeln.

Sie wiederholte: „Das ist hier keine öffentliche Toilette!“, und sie fing an, mich zu duzen. Ich drehte mich zum Barkeeper um und verlangte den Inhaber zu sprechen. Der Barkeeper erkannte mich und wirkte verlegen. Die Frau verschwand. Ich kehrte zu den anderen Gästen zurück, die mir vorschlugen, das Lokal zu verlassen. Das lehnte ich zunächst ab. Schließlich beschlossen wir, gemeinsam doch zu gehen. Niemand von den Beschäftigten hielt es für nötig, sich bei mir zu entschuldigen. Das weiße Denken entschuldigt sich grundsätzlich nicht.

„Der zweite Taxifahrer erteilte uns ebenfalls eine Absage und schickte uns zurück zum ersten Taxi“

Es ist immer eine schwierige Situation, wenn man Rassismus erlebt. Da steht oft Aussage gegen Aussage, und die, die sich rassistisch äußern, geben es nicht zu. Ich finde meine eigene Reaktion auf diesen Wortwechsel in dem Restaurant interessant: Erst versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen und tat so, als wäre es halb so schlimm. Ich wollte niemanden damit behelligen, keinen Skandal lostreten, sonst hätte es am Ende noch geheißen, ich hätte ihn ausgelöst.

Sogar ich habe das weiße Denken also verinnerlicht. In einer Gesellschaft, die nicht zugibt, dass es Rassismus gibt, hat der Antirassismus keine Priorität. Man sieht die Probleme überall sonst auf der Welt, nur nicht im eigenen Land. Und da man die Existenz des Rassismus leugnet, müssen Nichtweiße weiter unter ihm leiden.

Es gibt da noch eine Anekdote, die sich erst kürzlich zugetragen hat: Meine Frau, mein älterer Sohn und ich verließen gegen Mitternacht ein Restaurant. Wir gingen zu einem Taxistand, um ein Taxi zu nehmen. Der erste Taxifahrer gab uns ein Zeichen: Nein, ich nicht. Dann deutete er auf das nächste in der Reihe. Wir gingen etwas überrascht zum nächsten Wagen. Der zweite Taxifahrer erteilte uns ebenfalls eine Absage und schickte uns zurück zum ersten Taxi. Ich wurde langsam sauer.

„Das weiße Denken ist eine politische Ideologie, die bis heute in jedem von uns ihr Unwesen treibt“

Mein Sohn sagte: „Dann lassen wir es eben.“ Ich ging zum dritten Taxi. Der Fahrer sagte zu mir: „Ach, Monsieur Thuram, die anderen haben Sie wohl nicht erkannt!“ Der Fahrer wusste also, was da vor sich ging und dass das keine Ausnahme war. Es war zur Gewohnheit geworden. Als Schwarzer Mensch erlebt man solche Affronts immer wieder. Immer wieder wird dir signalisiert, dass du als Schwarzer ein potenzielles Risiko darstellst. Man steckt dich in eine Schublade, die mit einem negativen Etikett versehen ist.

Am 7. Februar 2022, einen Tag nach dem Spiel Senegal gegen Ägypten, treffe ich auf der Straße einen jungen Mann. Er spricht über Senegals Sieg und sagt: „Ich war mir sicher, Senegal würde im Elfmeterschießen verlieren.“ Ich frage: „Aber wieso?“ Er antwortet: „Wenn die Blacks Elfmeter schießen, habe ich immer so meine Zweifel.“ Darauf sage ich: „Elfmeterschießen ist nur eine Frage der Technik, entweder man beherrscht sie oder nicht, das ist keine Frage der Hautfarbe.“ Er bleibt dabei: „Ja, schon, aber ich habe immer meine Zweifel, wenn die Schwarzen Elfmeter schießen!“ Das weiße Denken ist eine politische Ideologie, die bis heute in jedem von uns ihr Unwesen treibt.

* Das Wort „weiß“ ist vom Autor bewusst kursiv gesetzt, um es als soziale Konstruktion zu kennzeichnen, mit der Privilegien einhergehen.

Aus dem Französischen von Cornelia Wend