Kulturhauptstadt | Europa

Woran wir uns nicht erinnern

Kaunas in Litauen und Novi Sad in Serbien präsentieren sich dieses Jahr als Kulturhauptstädte Europas – und gehen dabei sehr unterschiedlich mit ihrer jeweiligen Geschichte um
Eine blau angeleuchtete Moschee in der Nacht.

Die Moschee im „Park des Friedens“ in Kaunas: Zum Kulturhauptstadt-Jahr öffnet das Haus seine Türen für interessierte Besucher

Kaunas

Während das Land Litauen voller Sorge auf den Krieg in der Ukraine schaut, bereitet sich seine zweitgrößte Stadt auf die kulturellen Großereignisse des Jahres vor. Im September hat Robert Wilsons Stück „Dorian“ in Kaunas Premiere, die Künstlerinnen Yoko Ono und Marina Abramović werden ihre Kunst präsentieren, und ein weiterer Superstar der internationalen Kulturszene hat bereits im Januar eine Ausstellung eröffnet: William Kentridge, der aus einer jüdisch-litauischen Familie stammt, zeigt „That Which We Do Not Remember“. Woran wir uns nicht erinnern, das verschüttete Wissen über die eigene Stadt auszugraben, das ist die Aufgabe, die die Leiterin des Kulturhauptstadtprogramms, Virginija Vitkiené, und ihr Team sich gestellt haben. Eine exzellent gewählte Aufgabe.

Beschränken sich Programmmacher sonst gern darauf, ein vor sich hin dümpelndes lokales Filmfestival mit dem Label „Kulturhauptstadt“ zu versehen, oder veranstalten ein Jahr lang eine Riesenshow in ihrer Stadt, die danach wieder im künstlerischen Tiefschlaf versinkt, hat Kaunas einen anderen Weg gewählt. Es begreift Kultur nicht nur als touristische Veranstaltung, sondern vor allem als das, was eine Stadt und seine Menschen definiert.

Und stellt deshalb die Frage: Wer sind wir? Das ist eine gute Frage an diesem Ort, hundert Kilometer westlich der Hauptstadt Vilnius. Anders als vor dem Zweiten Weltkrieg ist die Bevölkerung heute wenig divers. Es gibt kaum Russen oder Polen in der Stadt, die Litauerinnen und Litauer bleiben unter sich.

„Nicht genau sagen zu können,warum man von Menschen besucht werden sollte, kommt fast wie eine Bankrotterklärung daher“

„Wir wissen eigentlich nicht, wer wir sind“, sagt Programmchefin Vitkiené. Ein wohltuender Satz in Zeiten, in denen jede noch so kleine Kulturinstitution ein zielgruppenoptimiertes Profil braucht und in denen Kulturhauptstädte einen großen Teil ihrer Etats in Marketing statt in die Kultur selbst stecken, um mehr Aufmerksamkeit zu generieren.

Nicht genau sagen zu können, wer man ist und warum man von Menschen besucht werden sollte, kommt vor diesem Hintergrund fast wie eine Bankrotterklärung daher. Doch die Selbstbefragung, die diesem Nichtwissen in den einzelnen Programmreihen folgt, ist ein großer Gewinn, sowohl für die Bürger der Stadt als auch für ihre Gäste, die dem Ganzen beiwohnen können.

Der mitten in der Stadt gelegene „Park des Friedens“ etwa war früher ein Friedhof. Seit 1956, dem Jahr des ungarischen Volksaufstands, gedachten Litauer hier mit Mahnwachen dem Protest, woraufhin der Friedhof von den Sowjets zerstört wurde. Im Park steht eine Moschee, bisher hat kaum ein nicht-muslimischer Mensch einen Fuß hineingesetzt. Im Kulturhauptstadtjahr aber hat man erstmals einen Tag der offenen Tür veranstaltet. Und im Programm „Memory Office“ kleine und große Geschichten der verschiedenen Ethnien der Stadt gesammelt, vergangene und heutige.        

von Jenny Friedrich-Freksa

Novi Sad

Eine menschenleere Straße mit eher tristen Hauswänden, von denen der Putz abbröckelt.

Weder Schilder noch Banner: In Novi Sad weist kaum etwas auf das Jahr als Kulturhauptstadt hin

Man sieht Novi Sad sofort an, dass hier etwas anders ist als anderswo. Die achtzig Kilometer von der serbischen Hauptstadt Belgrad entfernte Stadt hat sich ihre Erscheinung von den 21 dort lebenden Nationalitäten modellieren lassen. Als sei hier für jeden Zugezogenen ein immer noch großartigeres Theater-, Verwaltungs- oder Wohngebäude errichtet worden, spiegelt sich die Vielfalt der gerade mal 350.000 Einwohnerinnen und Einwohner beherbergenden Stadt in ihrer architektonischen Vielfalt.

Doch so mannigfaltig die Architektur ist, so leer erscheint das Wort „Multikulturalität“, das Novi Sad in diesem Jahr als Merkmal Nummer eins in der Vermarktung als eine der Kulturhauptstädte Europas 2022 benutzt. Denn die Umsetzung dieser bunten Identität in Veranstaltungsangebote beschränkt sich auf das „beste Ethno-Festival in Europa“ (Tamburitza), das „größte Musikfestival Europas“ (Exit) und diverse Laternen-, Oktober- oder Guglhupf-Festivals. Selbst die Straßenschilder sind nur im kyrillischen Serbisch gehalten. Einzige Ausnahme: die für Touristen aufgestellten englischen Hinweisschilder in der Nähe von großen Sehenswürdigkeiten.

„Der Nationalismus nehme zu, die Toleranz ab, sagt der Schriftsteller László Végel“

Entfernt man sich in Novi Sad zwei, drei Straßen vom Zentrum, dann bröckeln die Fassaden – auch im übertragenen Sinne. „Es wird immer schwieriger, Novi Sader in Novi Sad zu sein“, sagt der seit achtzig Jahren hier lebende und der ungarischen Minderheit angehörende Schriftsteller László Végel. Der Nationalismus nehme zu, die Toleranz ab. Das Hauptstadtkulturprogramm ist jedoch darum bemüht, ungemütliche Themen zu kaschieren.

Am auffälligsten ist dabei der Umgang mit dem berühmtesten Sohn der Stadt, dem Schriftsteller Aleksandar Tišma. Der 2003 im Alter von 79 Jahren verstorbene und weltweit als Chronist Novi Sads verehrte Autor hat in seinen Romanen die Verbrechen des Nationalsozialismus verarbeitet. Sein Werk und die Verstrickung der Ungarn, Deutschen und Serben in die Verbrechen spielen im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres jedoch keine Rolle. In Novi Sad, sagt mir eine Stadtführerin, wurden die Dinge schon immer lieber unter den Teppich gekehrt, damit obendrauf alles weiter schön aussieht.

Dass Kultur aber nur da entsteht, wo man sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzt, zeigt die Galerie Matica Srpska. Dort zeigt die Direktorin Tijana Palkovljević Bugarski die serbische Porträtmalerei so, dass die Entwicklung von den frühen ungelenken Laienmalern zu den Großmeistern zu sehen ist, die überhaupt nur so erfolgreich wurden, weil sie sich von russischen und französischen Künstlern schulen ließen. „Wir wollen damit zeigen, dass man nichts schafft, wenn man nur in der eigenen Soße schwimmt“, sagt die Direktorin. Man kann nur hoffen, dass sich diese Sicht auf die multikulturelle Bedeutung der Stadt wieder durchsetzen wird.

von Doris Akrap