Unter der Erde | Peru

Die Erde braucht Schlaf

In der Quechua-Kultur hängt das überirdische Leben eng mit dem unterirdischen zusammen. Von der Geburt bis nach dem Tod spielt die Pachamama eine wichtige Rolle

Auf schwarzen Steinen liegt ein Flaschenkürbis. In den Kürbis wurde eine seitlich sitzende nackte Frau mit langen Haaren geschnitzt.

Eine Schnitzerei der Pachamama auf einem Flaschenkürbis ("mate") 

Die Toten sind die Einzigen, die die Ukhu Pacha kennen: die Unterwelt. Wir kennen sie noch nicht. Doch wir wissen, wie wichtig es ist, Mutter Erde respektvoll zu behandeln, sie zu nähren und zu erhalten. Pachamama, wie wir sie nennen, oder Mutter Erde ist für uns lebenswichtig: Sie nimmt unsere Ahnen in sich auf und erhält uns am Leben.

Mehr noch: Sie ist unsere Mutter. Doch damit die Beziehung zu ihr gelingt, müssen wir sie pflegen und mit Opfergaben nähren. So tragen wir dazu bei, dass alles im Gleichgewicht bleibt.

Die oberirdisch Lebenden behandeln die unterirdische Welt mit großem Respekt. Das bedeutet, dass sie nicht nur Dinge aus der Erde herausholen, sondern auch etwas zurückgeben – eine Art Zwei-Wege-Kommunikation. Wenn wir zum Beispiel Kartoffeln anbauen, müssen wir nach ein paar Erntejahren der Erde die Möglichkeit gönnen, sich auszuruhen und zu erholen.

Die Erde braucht Schlaf. Wenn wir im September und Oktober Mais oder Kartoffeln anpflanzen, ist das für uns eine wichtige Zeit, die wir gehörig feiern: Wir essen und trinken gemeinsam, und die Frauen – die Töchter der Mutter Erde – stimmen Gesänge an. Um der Erde eine Freude zu machen, küssen wir den Mais, bevor wir ihn in die Erde pflanzen.

Damit es der Pachamama dauerhaft gut geht, müssen wir für sie sorgen. Im August, ihrem Monat, legen wir Opfergaben in die Erde und helfen ihr damit, nach der langen, unfruchtbaren und kalten Jahreszeit wieder zu Kräften zu kommen. Die Opferpäckchen können Kokablätter und Früchte aus dem Regenwald oder von der Küste enthalten – das variiert je nach Region.

In Cusco zum Beispiel wird traditionell ein Lamafötus vergraben. Zu den zeitgemäßeren Opfergaben gehören Süßigkeiten, denn Pachamama nascht gerne. Während der Opferzeremonie essen wir gemeinsam und kauen Kokablätter, danken der Erde und den Bergen und werfen Konfetti. Das Ganze ist ein Ritual, verbindet aber auch künstlerische und symbolische Elemente.

Bevor wir unsere Gaben vergraben, wickeln wir sie in Papier oder eine Decke ein. Bis vor etwa fünf Jahren war es üblich, alle Opfergaben zu verbrennen, die Überreste in ein Loch im Boden zu legen und mit Erde zu bedecken.

Heute verbrennen wir die Opfergaben nicht mehr, weil die Natur durch die Auswirkungen des Klimawandels zu trocken ist. Die Opferstätten werden von uns mit großem Respekt behandelt und dürfen nicht von Menschen oder Tieren gestört werden – sonst verärgert man die Pachamama.

„Diese Tradition ist quicklebendig und aktuell“

In Apurímac – von dort stammte meine Mutter – wurden die Opfergaben in einen Topf gelegt, den man anschließend zerschlug, damit der Inhalt sich verteilen und vom Boden aufgenommen werden konnte. Dieses Aufgenommenwerden war wichtig, um den Kreislauf des Lebens aufrechtzuerhalten.

Meine Mutter hat als Kind einmal Scherben solcher Opfertöpfe gefunden. Es waren sehr alte Scherben, vielleicht sogar aus vorspanischer Zeit. Ihre Eltern schärften ihr ein, sie solle sich von ihnen fernhalten, weil sie sonst krank würde, denn auch die Scherben gehören nicht uns, sondern der Erde, der Pachamama.

Die andere Hälfte meiner Familie stammt aus Huánuco in den Zentralanden. Dort gibt es eine andere Tradition, die mit der Erde und dem Boden zu tun hat: die Pachamanca – eine im buchstäblichen Sinne unterirdische Speise. „Pacha“ bedeutet „Erde“ und „Manca“ „Topf“. Die Pachamanca wird im Februar und zu besonderen Anlässen zelebriert und stärkt die enge Verbundenheit mit der Erde und unsere Gemeinschaft.

Wir graben ein Loch in den Boden, füllen es mit heißen Steinen und dann mit Mais, mariniertem Fleisch und Kartoffeln (wenn man sie hinterher herausnimmt, schmecken sie besser als alle Kartoffeln, die ich sonst in meinem Leben probiert habe). Früher nahm man Lama, Alpaka oder Meerschweinchen, aber heute kann man jedes beliebige andere Fleisch verwenden.

Auf die Speisen legen wir eine zweite Lage Steine, eine dicke Schicht aus Chirimoyablättern und eine Decke. Zum Schluss schütten wir das Ganze mit reichlich Erde zu. Dann wird gemeinschaftlich gefeiert und Chicha, ein fermentiertes Getränk aus Mais, oder heute eher Bier getrunken. Dabei schütten wir immer einen Teil des Getränks auf den Boden – für die Mutter Erde. Häufig bekommt sie eine ganze Flasche ab. Dann wird musiziert und gefeiert, bis wir nach ungefähr einer Stunde die Pachamanca öffnen und verspeisen. 

Diese Tradition ist quicklebendig und aktuell – viele Menschen, die in der Stadt leben, gehen heute ins Restaurant, um Pachamanca zu essen. Dort geht jedoch der Sinn für das Ritual und die Gemeinschaft verloren. Ich hatte das Glück, dass meine Großmutter immer selbst Pachamancas zubereitet hat. Ich setze diese Tradition bis heute fort und habe auch schon Pachamancas am Bodensee und in Berlin zelebriert. 

„Ich war entsetzt, als ich einmal im Ethnologischen Museum in Dahlem eine solche Mumie als Exponat entdeckte“

Als mein Großvater beerdigt wurde, gaben wir ihm für die bevorstehende lange Reise in die Unterwelt Lebensmittel, Kleidung und ein Extrapaar Schuhe mit. Die liebevolle Verbindung, die ich zu meinem Großvater hatte, pflege und bewahre ich bis heute mithilfe von Ritualen. Das gibt meinem oberirdischen Leben mehr Sicherheit. Manchmal kommen unsere Ahnen uns in unseren Träumen besuchen, vor allem, um uns vor etwas zu warnen oder eine Botschaft zu übermitteln. Sie sind das Bindeglied zwischen uns und der Mutter Erde. Um für sie zu sorgen, gehen wir am „Día de los muertos“, dem „Tag der Toten“, auf den Friedhof und bringen ihnen Essen.

Die Mumien der Andenkultur heißen Mallki. Bei einem Begräbnis gab man ihnen einst kleine Beutel für ihre Reise in die Ukhu Pacha mit. Die Mallki sollten unberührt im Erdboden ruhen. Ich war entsetzt, als ich einmal im Ethnologischen Museum in Dahlem eine solche Mumie als Exponat entdeckte.

Die Mallki wurden im Namen der Wissenschaft aus der Erde geholt, um etwas über die Inka zu erfahren. Warum ließ man sie nicht in Frieden ruhen? Im Berliner Humboldt Forum wird ebenfalls eine Mumie ausgestellt, die von der Küste bei Lima stammt. Ein alter Mann und ein Kind.

Zu dem Totenbündel gehören ein Beutel mit Saatgut, Werkzeuge, eine kleine Baumwolltasche und andere wichtige Gegenstände. Für uns ist der Tod eine Wiedergeburt. Deshalb legen wir die Verstorbenen in die Erde. Wer sie ausgräbt, sprengt unsere Welt auseinander. 

Protokolliert von Jess Smee

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld