Bildung | Ungarn

Höhere Bildung unerwünscht in Ungarn

Ist es Vernachlässigung oder bewusster Rückbau? Das Hochschulwesen in Ungarn leidet unter der Regierung Orbán. Der ungarische Autor Ferenc Czinki diskutiert, was zu tun ist
Die Fassade eines öffentlichen Gebäudes ist zu sehen. An den Fenstern und auf den Balkonen stehen überall Menschen, Transparente hängen aus den Fenstern.

Studierende erheben ihre Hände während der 70-tägigen Besetzung der Universität für Theater und Filmkunst in Budapest im November 2020

Ich bin kein Mensch der Gegenstände, ich hänge weder an irgendwelchen Geräten, Möbeln oder Kleidungsstücken noch bewahre ich alte Familienfotos auf. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich nicht einmal Exemplare meiner eigenen Bücher zu Hause.

Doch von einem Gegenstand würde ich mich auf keinen Fall trennen: dem sonnengelben Mundschutz, den ich an einem nebligen Morgen im November 2020 von den Organisatorinnen und Organisatoren der Universitätsbesetzung in Budapest bekam, die damals schon zwei Monate andauerte. Auf der Maske sind eine ausgestreckte Hand zu sehen  und „Free SZFE“ zu lesen (Universität für Theater und Filmkunst Budapest).

Damit steht der Mundschutz zugleich für zwei Dinge, die sich zu widersprechen scheinen. Das ist zum einen die Pandemie, die ich gern vergessen würde, aber nicht vergessen kann. Zum anderen ist das etwas, das ich auf jeden Fall im Gedächtnis bewahren werde: die einzige Bürgerbewegung, die ich bislang als Erwachsener in Ungarn erlebt habe, für die ich mich tatsächlich bedingungslos begeistern konnte.­


„Der gelbe Mundschutz wurde zum Symbol des Widerstands“


Am 1. September 2020 besetzten die Studierenden der SZFE 70 Tage lang das Universitätsgebäude, gründeten eine „Lehrrepublik“ und ließen die neue Leitung, die die ungarische Regierung unrechtmäßig ernannt hatte, nicht herein.

Mit ihren Aktionen stellten sie den Unterricht sowie das autonome Hochschulleben über das gesamte Semester sicher. Die bekanntesten Persönlichkeiten des ungarischen Kulturlebens, Leute aus der Literatur-, der Theater- und der Filmszene, darunter Ehemalige der SZFE, aber auch internationale Stars demonstrierten für die Autonomie der Universität.

Das war eine gesellschaftliche Unterstützung, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen hatte – die rot-weiße Schleife, der gelbe „Free-SZFE“-Mundschutz und das Hauptgebäude der Universität in der Vas-Straße wurden zum Symbol des Widerstands gegen die derzeitige Regierungspolitik.

Zwei Jahre danach ist es sinnvoll zurückzublicken, um sich zu vergegenwärtigen, wie die Bewegung endete, aber wichtiger noch: um sich klarzumachen,  was davon am Leben blieb und in welcher Form sie fortgeführt werden sollte.

Widerstand gegen die Regierungspolitik

Über lange Zeit fürchteten sich die jeweiligen Regierungen Ungarns – aus welchem Grund auch immer – insbesondere vor drei gesellschaftlichen Gruppen. Das waren erstens Taxifahrer und Mitarbeiter des öffentlichen Verkehrswesens, zweitens Studierende und Lehrende an den Hochschulen und drittens Literaten und öffentliche Intellektuelle.

Als Leiter der Gesellschaft der ungarischen Autoren (der derzeit bedeutendsten unabhängigen literarischen Organisation) muss ich – gefasst, aber mit einer gewissen Trauer – feststellen, dass Letzteres heute definitiv nicht mehr zutrifft. Die sensiblen unabhängigen Intellektuellen in Ungarn verharren philosophierend und moralisierend in einer gewissen Dauerempörung.

Damit sind sie zur leichten Beute der zynischen regierungsnahen Propagandamedien geworden, die sich quasi immer im Kampfmodus befinden. Die breite intellektuelle Opposition wurde damit über die Jahre durch Geldknappheit und innere Konflikte aufgerieben. Das Gleiche trifft auch auf die parteipolitische, parlamentarische Opposition zu.


„Studierende, Lehrerinnen und Lehrer forderten landesweit bessere Bedingungen im Bildungswesen“


Wie steht es mit den Taxifahrern? Seit den Umwälzungen vor dreißig Jahren haben sie immer wieder eine überraschende Stärke und Einheit bewiesen. Sie interessieren sich allerdings weniger für die Kunst oder die Freiheit der Universitäten und des Denkens. Daher reicht es ihnen, wenn sie Steuervergünstigungen und reduzierte Kraftstoffpreise erkämpfen können, wie es ihnen auch diesmal, zu Beginn der jetzigen Inflations- und Energiekrise, gelungen ist.

Bleiben also noch die Studierenden und die Lehrenden der Hochschulen. Über die Nachwirkungen der „Free SZFE“-Bewegung zu sprechen, ist gerade jetzt wichtig, denn im Herbst 2022 fanden landesweit Demonstrationen statt. Studierende, Lehrerinnen und Lehrer streikten, blieben ihren Bildungsstätten fern und forderten bessere finanzielle und soziale Bedingungen im öffentlichen Bildungswesen.

Missstände im Bildungswesen 

Keine ungarische Regierung seit dem Fall des Kommunismus hat sich je wirklich mit der öffentlichen Bildung befasst, aber mit der jetzigen Fidesz-Regierung sind die Zustände im Bildungswesen tatsächlich unhaltbar geworden. Einige Kritikerinnen und Kritiker sehen darin nicht einfach nur Vernachlässigung, sondern eine bewusste politische Strategie.

Sie behaupten, dass die Orbán-Regierung absichtlich die Rückbildung des öffentlichen Bildungswesens (und dort insbesondere der Hochschulen) betreibt – motiviert durch die Vorstellung, dass sich weniger gut ausgebildete kommende Generationen Viktor Orbáns illiberalem System der „nationalen Zusammenarbeit“ leichter fügen werden.


„Ungarische Schüler schneiden bei internationalen Tests zum sprachlogischen Denken immer schlechter ab“


Ich glaube nicht an diese These. Faktisch ist es jedoch so, dass ungarische Schüler bei internationalen Tests zum sprachlogischen Denken Jahr für Jahr schlechter abschneiden; dass die Regierung ihre politischen Auffassungen unmittelbar in Lehrbücher einbringt und bestrebt ist, die Autonomie der Universitäten zu untergraben; und dass sie die Pädagoginnen und Pädagogen durch niedrige Löhne und erniedrigende Arbeitsbedingungen im Grunde genommen in Knechtschaft bringen will.

Dabei geht man offenbar fest davon aus, dass sich Pädagogen uneingeschränkt für ihren Beruf begeistern und in jedem Fall an ihm festhalten, ihre Arbeit also trotz aller Widrigkeiten nicht aufgeben werden.

„Privatisierung“ von Universitäten für mehr Kontrolle

Meines Erachtens ist dies alles keineswegs Teil eines ehrgeizigen geheimen, gut ausgearbeiteten Plans. Vielmehr spricht daraus eine kleinliche, kurzsichtige Haltung der Regierung, die sich letzten Endes vielleicht sogar rächen wird. Im Herbst 2022 hat das Ganze schon zu  zahlreichen Demonstrationen geführt, wie wir sie schon lange nicht mehr in dieser Stärke und Geschlossenheit erlebt haben.
 


„Die Regierung stellte mehrere Universitäten unter Verwaltung scheinbar unabhängiger Stiftungen, die wiederum von regierungsnahen Treuhändern kontrolliert werden“



Klar ist auf jeden Fall, dass die Regierung im Bildungswesen eigentümliche Tricks anwendet: Sie „privatisiert“ Universitäten, um den staatlichen Einfluss auszuweiten. So hat sie schon mehrere Universitäten der staatlichen Zuständigkeit entzogen und sie der Verwaltung scheinbar unabhängiger Stiftungen unterstellt, die in Wahrheit wiederum von regierungsnahen Treuhändern kontrolliert werden. Auf diese Weise umging sie die Universitätsautonomie, die in Ungarn seit Jahrhunderten Tradition hat.

Im Fall der erwähnten Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest, der SZFE, ist die Politik dabei auf erbitterten Widerstand gestoßen, mit dem sich sogar Studierende und Organisationen im Ausland solidarisierten. Mit anderen Hochschulen hatte die Regierung aber ein deutlich leichteres Spiel.

Was kann man tun?

Was können wir Ungarn in der derzeitigen Situation tun, um uns unsere Unabhängigkeit, berufliche Integrität oder einfach nur den gesunden Menschenverstand zu bewahren? Meines Erachtens eben das, was wir seit 1989 unzählige Male, aber auch davor schon gemacht haben: Wir müssen den komplizierten Weg einschlagen. Unser Land ist schon seit langer Zeit ein Land der B-Pläne und der erzwungenen Umwege. Was also tun?

Lasst uns doch kurz überlegen: Alle Studierenden, die Lehrerschaft und Leitung einer gut laufenden Universität mit großer Vergangenheit verlassen die Institution, um in Vereinsform privat finanziert einen autonomen Universitätsunterricht auf hohem Niveau zu gewährleisten. Schüler und Lehrerinnen im öffentlichen Bildungssystem gehen bei Wind und Wetter auf die Straße für angemessene Bedingungen in den Schulen. Autoren wie ich schreiben in internationalen Medien, um auf die Missstände aufmerksam zu machen.

Auch wenn wir aus Trotz, aus Not oder einfach wegen unseres Gerechtigkeitssinns jedes Mal die komplizierte Lösung wählen müssen – einen Vorteil hat die Sache: Auf langen, steinigen Wegen gibt es weniger Verkehr. So gelangen möglicherweise doch schneller dorthin, wo wir hinwollen.