Literatur | USA

Auslöschen per Gesetz

Louise Erdrich erzählt von indigenem Widerstand in den USA der 1950er-Jahre

Ein schwarz weiß Porträt eines älteren indigenen Mannes mit Indianer Kopfschmuck und Indianer Kette.

Patrick Gourneau, Großvater der Autorin und Inspiration für die Romanfigur Thomas

Die Autorin Louise Erdrich, selbst Tochter einer Indigenen vom Stamm der Ojibwe, taucht in ihren Romanen immer wieder in die Lebensrealität US-amerikanischer Reservate ein. Doch ihr jüngstes Buch, „Der Nachtwächter“, ist deutlich persönlicher als vorherige Romane: Bei dem namensgebenden Wächter handelt es sich um Erdrichs Großvater Patrick Gourneau.

Er war – genau wie die Romanfigur Thomas Wazhashk – Stammesrat der Turtle Mountain Chippewa in North Dakota und setzte sich in den 1950er-Jahren unermüdlich gegen diskriminierende Gesetzesvorhaben ein. 

Im Roman kämpft Erdrichs Protagonist Thomas nachts mit allen Tricks gegen die Müdigkeit an, während er seinem Beruf als Nachtwächter in einer Fabrik nachgeht. Dabei arbeitet er sich diszipliniert durch ein Gesetzespapier, das im Jahr 1953 vom Kongress der Vereinigten Staaten verabschiedet wurde: die „House Concurrent Resolution Nr. 108“.

Dieses Gesetz sah vor, den in Reservaten lebenden „Indianern“ ihre vertraglich zugesicherten Landrechte zu nehmen und sie vollständig zu assimilieren. „Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchsen, die Tuberkulose. (...) Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Worte“, fasst Thomas die Situation treffend zusammen.

„Kaum einer im Reservat, der nicht versehrt ist – durch missbräuchliche Schulen, Sucht, Diskriminierung oder Gewalt“

Ungemein packend beschreibt Erdrich, wie sich Thomas den schwer verständlichen Gesetzestext aneignet, der seiner Community das Existenzrecht abspricht – und sich innerhalb kürzester Zeit dagegen zu wehren lernt. Auf einer klapprigen Reservatschreibmaschine werden Petitionen getippt, mit dem Pferd von Haus zu Hütte transportiert und Unterschriften gesammelt.

In der bitterarmen Turtle-Mountain-Gemeinschaft können viele Chippewas lediglich ihren geschwärzten Fingerabdruck unter die Petition setzen. Vordergründig handelt der Roman von diesem Kampf gegen die drohende sogenannte „Terminierung“.

Doch er ist auch das vielstimmige Porträt einer Gemeinschaft mit reicher Kultur, Spiritualität und festem Zusammenhalt, ohne die düsteren Seiten zu beschönigen. Kaum einer im Reservat, der nicht versehrt ist – sei es durch missbräuchliche Internatsschulen, in die viele indigene Kinder gesteckt wurden, sei es aufgrund von Sucht, Diskriminierung oder Gewalt. 

Für die eigene kulturelle Identität wird gekämpft, und zwar mit allen Mitteln: Thomas und seine Mitstreitenden organisieren Boxmatches, um das nötige Geld für eine Delegation nach Washington zusammenzustellen. Sie schreiben verzweifelte Briefe an Chippewas im ganzen Land, an Politiker, Interessensverbände und jeden, der ihnen sonst noch in den Sinn kommt.

Senator Arthur V. Watkins (der ebenfalls historisch belegte Ideengeber hinter der „Terminationspolitik“) ist tiefgläubiger Mormone und begründet seine Ablehnung der Indigenen religiös. Also studiert Thomas in der nächtlichen Wächterstube das „Buch Mormon“, denn: „Man muss seinen Feind kennen.“

„Der zweite Erzählstrang macht deutlich, was es in den 1950er-Jahren bedeutet hat, eine Frau, indigen und arm zu sein“

Neben Thomas ist es die Stimme der (fiktiven) Fabrikarbeiterin Patrice Paranteau, aus deren Perspektive ein Großteil des knapp 500 Seiten schweren Romans geschrieben ist. Die willensstarke, junge Frau ernährt mit ihrem Gehalt die gesamte Familie und folgt gleichzeitig der Spur ihrer in die Fänge von Menschenhändlern geratenen Schwester.

Durch diesen Erzählstrang wird mit aller Grausamkeit deutlich, was es in den 1950er-Jahren bedeutet hat, eine Frau, indigen und arm zu sein. Auch Patrice wird Teil der Delegation, die in Washington gegen das Gesetz Einspruch erhebt. Auszüge aus den Originalprotokollen der Anhörung sind in den Roman eingearbeitet – und gehen unter die Haut: „Keine noch so großzügige Regierung kann diesen Menschen Ehrgeiz einpflanzen“, sagte etwa Senator Watkins 1953.

Historisch verbriefte Zitate wie diese zeigen genau die rassistische Menschenfeindlichkeit, die die US-Politik gegenüber Indigenen noch bis in die 1970er-Jahre prägen sollte. Umso eindrücklicher ist die Schilderung des emanzipatorischen Kampfes der Chippewa.

Es ist eine große Leistung der Autorin, dieses wenig bekannte Kapitel US-amerikanischer Geschichte so sprachgewaltig und farbenfroh in Erinnerung zu rufen. Völlig zu Recht wurde Louise Erdrich für „Der Nachtwächter“ mit dem Pulitzer-Preis 2021 ausgezeichnet.