Architektur | Australien

„Mit dem Land bauen“

Der australische Architekt Kevin O’Brien will indigenes und koloniales Erbe versöhnen und Architektur schaffen, die Kultur und Klima eines Ortes berücksichtigt. Ein Gespräch über die Strandhütten der Torres Strait Islander, Klischees der Moderne und die Liebe zu Australien
Modernes Haus mit drei Bögen im Grünen

Entwurf für das „Darkinjung Aboriginal Centre“ in New South Wales

Interview von Ruben Donsbach

Herr O’Brien, Ihre Mutter gehört zu den Torres Strait Islanders, einer indigenen Gemeinschaft, die auf der gleichnamigen Inselgruppe in der Meerenge zwischen dem Nordosten Australiens und Papua-Neuguinea beheimatet ist. Haben Sie dort länger gelebt, was für ein Ort ist das?
Ich bin in Brisbane aufgewachsen, aber fast jedes Jahr sind wir in den Ferien auf die Inseln gefahren. Es ist ein wunderschöner Ort nahe dem Great Barrier Reef. Doch erst mal war das für mich ein ziemlicher Kulturschock. Das Leben dort ist sehr einfach und sehr frei, es gibt so gut wie keine Zäune und wenig Privatsphäre.

Als Junge aus der Stadt musste ich mich am Anfang ständig behaupten, ich war der Fremde. Doch mit den Jahren wurden meinen Beziehungen zu meinen Verwandten und Freunden dort sehr wichtig für mich.

„Indigene Symbole auf neue Gebäude zu kleben, ist für mich wie Disneyland“

Sie haben einmal in einem Interview mit einem australischen Radiosender erwähnt, wie eindrücklich es sei, von manchen Aussichtspunkten in dieser Inselwelt einen 360-Grad-Blick bis zum Horizont zu haben – und der Krümmung der Erde gewahr zu werden. Wie hat dieser Blick Ihre Perspektive verändert?
Erst mal schafft dieses Gefühl von unendlicher Weite um einen herum einen intensiven Sinn für die Gemeinschaft. Das hat also einen sozialen Aspekt. Zum anderen ist man fundamental in seinem Menschsein berührt. Man spürt das Gewicht der Hemisphäre.

Der einzige andere Ort, an dem ich das noch erlebt habe, ist im Zentrum Australiens. Der Himmel hat hier ein Gewicht, und gleichzeitig herrscht eine überwältigende Tiefe, anders kann ich es nicht beschreiben.

Ein grünes Haus mit großen Fenstern

Der „Yarrila Place“, ein Kunst-, Kultur- und Bildungszentrum in Coffs Harbour

Als junger Architekt haben Sie den Pazifischen Raum bereist, den sogenannten Pacific Rim. Sie besuchten indigene Gemeinschaften, beschäftigten sich eingehend mit deren Unterkünften und Baumaterialien. Was haben Sie damals gelernt?
Ich wollte zunächst verstehen lernen, welche indigenen Techniken und Bauweisen aus der Zeit vor dem Erstkontakt mit den europäischen Kolonialisten noch lebendig waren. Was mich aber wirklich interessierte, war, wie dieses Wissen uns eine neue Perspektive auf die aktuellen Herausforderungen in unserer modernen Welt eröffnen könnte.

Sie haben nicht nach einer genuin indigenen Ästhetik gesucht?
Nein, nie. Indigene Architektur auf irgendwelche Formen oder Symbole zu reduzieren und diese dann einfach auf neue Gebäude zu kleben, ist für mich wie Disneyland. Das Gleiche passiert übrigens in der Kunstwelt. Die meiste sogenannte indigene Kunst ist in Wirklichkeit nur etwas für Touristen.

Wie kann man es besser machen?
Ich habe auf meiner Reise den neuseeländischen Maori-Architekten Rewi Thompson kennengelernt, der mich tief geprägt hat.

Wir haben in dem Sinne nie über eine indigene Architektur gesprochen, sondern immer nur über Architektur per se. Dabei ging es nie darum, irgendeine gerade angesagte Architektur auf ein Baugrundstück zu pflanzen, sondern vielmehr mit dem Land selbst in einen Dialog zu treten.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Menschen auf den Torres-Strait-Inseln errichten eine sehr besondere Art von Hütten auf ihren Stränden, in denen man Unterschlupf vor Sonne, Wind und Regen finden kann. Das sind einfache Konstruktionen aus Ästen und Balken, darüber legt man Holz oder Blech und verschnürt es miteinander. Einfach, aber wunderschön. Wenn man diese Unterschlüpfe so betrachtet, dann kann man sie geradezu modernistisch nennen.

Bisher nicht realisierter Entwurf für das „Darkinjung Aboriginal Cultural Centre“. Der Darkinjung-Rat ist eine indigene Interessenvertretung und Bildungseinrichtung in New South Wales, Australien

Und das ist dann indigener Modernismus?
Man muss hier tatsächlich vorsichtig sein. In der Architektur ist das Etikett „indigen“ eigentlich ein weißes Label, das verwendet wird, um uns als Indigene sozusagen unter Quarantäne zu stellen und uns von einem zeitgenössischen Architekturdiskurs auszuschließen. Auch deshalb bekomme ich regelmäßig zu hören, dass meine Arbeit nicht indigen genug aussieht, ich baue ja weder „kurvig“, noch verwende ich Material wie Stroh oder Lehm. Für mich ist das lächerlich.

Der niederländische Architekt Rem Koolhaas hat in seinem Buch „Delirious New York“ den Modernismus als eine Praxis beschrieben, die eine Art künstliche Natur erfindet und sie dann der Natur selbst aufzwingt. Das scheint das genaue Gegenteil von dem zu sein, wovon Sie sprechen.
Ganz genau. Modernistische Architektur hatte ursprünglich das erklärte Ziel, mit neuartigen Baustoffen funktionale Häuser und einen hochwertigen öffentlichen Raum für möglichst viele Menschen zu schaffen. Die klassische Architektur der Moderne ist aber letztlich gescheitert, weil ihre Protagonisten dachten, sie sei besser als die Natur.

„Wir können nicht große Teile unserer Geschichte canceln“

Indigenes Wissen könnte dazu beitragen, dass ein neuer Modernismus entsteht, der sich besser an die jeweilige Kultur und das lokale Klima anpassen kann. Damit wäre viel gewonnen.

Ihrer Arbeit als Architekt liegt ein Programm zugrunde, das Sie „Building with country“ nennen. Sie unterteilen dabei die Geschichte Australiens in drei kulturelle Phasen, die Sie „Schichten“ nennen: die indigene, die koloniale und die multikulturelle. Was hat es damit auf sich?
Für mich ist die erste Schicht die der Ureinwohner – oder First Nation – und bis zu 80.000 Jahre alt. Dann gibt es eine etwa 200 Jahre dauernde koloniale Phase seit der Ankunft von Captain Cook an unserer Ostküste im Jahr 1770.

Seit den 1960er-Jahren hat sich allmählich so etwas wie ein post-weißes Australien entwickelt. Menschen aus aller Welt kamen zu uns und haben neue Ideen und Lebensentwürfe mitgebracht. Wir sind seitdem zu einer Art globaler Nation geworden. Das ist alles Teil unserer Geschichte, wir können davor nicht weglaufen. Mir geht es um die Frage, wie wir all diese Einflüsse verbinden können.

Die „Blak Box“ ist ein mobiler Kunstraum mit direkter Verbindung zum Boden. Außen streng rechteckig, beherbergt der Pavillon innen einen gemeinschaftlichen Raum

Wie sollen sich denn indigene und koloniale Geschichte ergänzen?
Das indigene Erbe vermittelt uns ein Verständnis von der Zugehörigkeit und Liebe zu diesem Land. Die koloniale Phase ist im Wesentlichen eine Phase der neu geschaffenen Infrastruktur und der Öffnung Australiens für Einflüsse aus aller Welt.

Sie meinen die Eroberung Australiens durch britische Siedler?
Es ist natürlich richtig und einfach zu sagen: erobert, eingedrungen. Aber was sagt uns das über das Hier und Jetzt?

Ich denke, vieles wird von so einer Sprache eher verdeckt und verschleiert. Ich frage mich eher: Was kann man für die ökologische Transformation unserer Städte von der jahrtausendealten indigenen Tradition lernen, in der es immer um eine nachhaltige Bewirtschaftung des Landes und die Bewahrung der Schöpfung ging?

Sie haben an der Queensland University Architektur unterrichtet. Gab es da nicht junge Studierende, die sagten: Komm schon, das reicht nicht, wir müssen erst einmal richtig dekolonisieren!
Diese Diskussion führe ich ständig. Und meine Antwort ist immer, dass eine so einseitige Sichtweise nur zu einer neuen Form des kolonialen Denkens führt. Wir können die kulturellen Impulse, die seit der Zeit von Captain Cook in dieses Land gekommen sind, nicht einfach auslöschen.

Ich denke, eine Dekolonisierung sollte so pluralistisch wie möglich gestaltet sein. Ich glaube nicht, dass es realistisch ist, große Teile unserer Geschichte zu canceln. Vor allem werden wir so niemals unsere Wunden heilen und zueinander finden können.

In der „Blak Box“ können Besucher über Klang- und Sprachkunstwerke zeitgenössische Formen von Indigenität kennenlernen

Kann Architektur dazu beitragen, diese Wunden zu heilen, indem sie die Geschichten des Landes, auf dem sie steht, hervorhebt und den Geschichten der Menschen, die dort gelebt haben, eine Plattform gibt?
Meiner Meinung nach können wir als Architekten in dieser Hinsicht sehr wenig tun. In dem Moment, in dem wir einen Ort betreten, verändern wir ihn. Was ich bei der näheren Betrachtung der Gebäude in meiner Heimat, über die ich gesprochen habe, gelernt habe, ist etwas anderes.

Und was wäre das?
Auch wenn die Architektur, anders als zum Beispiel die Bildende Kunst, selbst kein Medium sein kann, um unsere Kolonialgeschichte zu reflektieren, kann sie doch dazu beitragen, dass wir eine neue Beziehung zu unserem Land aufbauen.

Architektur kann Menschen dabei helfen, sich in unser Land zu verlieben: indem sie den Blick leitet oder es einem ermöglicht, an einem bestimmten Ort zu verweilen – wie bei den Hütten am Strand.

Menschen sitzen um eine Feuerschale auf einem runden Betonkreis

Das „Kimberwalli Centre for Excellence“ nahe Sydney konzipierte Kevin O’Brien mit einer Gruppe Aborigines. Es soll junge Indigene mit ihrer Geschichte und Kultur verbinden

Das klingt sehr schön, aber was verändert es in der Praxis?
Unheimlich viel. Was man liebt, das will man bewahren. Dann geht es weniger um Produktivität und Nutzen, sondern um gesellschaftlichen Austausch und soziale Bindungen.

Ein Beispiel dafür wäre das von meinen Kollegen und mir umgestaltete „Kimberwalli Centre for Excellence“ in Sydney. Eine Art Safe Space für Fortbildungen, Zusammenkünfte, aber auch ein Ort, an dem gerade indigene Menschen, die vielleicht marginalisiert sind, Hilfe finden können, ihre intergenerationalen Traumata zu bewältigen.

Vor dem Gebäude findet man einen Platz mit einer großen Feuerschale. Was ist seine Funktion?
Seit Tausenden von Jahren haben Indigene das Feuer genutzt, um das Land zu bewirtschaften, es urbar zu machen und vor unkontrollierten Busch- und Waldbränden zu schützen. Feuer hat in unserer Kultur keine negative Konnotation, im Gegenteil. Es stiftet Leben, aber auch Gemeinschaft. Denn natürlich ist das Feuer ein Ort, um den sich die Generationen versammeln, um sich Geschichten zu erzählen.

Gerade für junge indigene Australierinnen und Australier ist es unheimlich wichtig, über diese Geschichten in Kontakt mit ihrem Land und so mit ihrer eigenen Identität zu treten. All das sind Überlegungen, die fast all meinen Projekten vorangehen.