Inuit | Kanada

Nunavik, eisige Heimat

Im Norden Kanadas lebte die indigene Bevölkerung lange im Einklang mit ihrer Umwelt. Doch dann entdeckte Europa die Eiswüste und ihre Roh­­stoffe für sich. Eine persönliche Geschichte über das Leben am Rande Nordamerikas
Mehrere Kinder springen auf umgedrehten Kanus an der Küste entlang.

Kinder spielen am Strand in Iqaluit, Nunavut, auf eingepackten Kanus der Hudson’s Bay Company, die mit ihrer Gründung 1670 das älteste eingetragene Unternehmen in Kanada ist

Eine Frau steht in einer winterlichen Landschaft. Sie trägt eine dicke Jacke mit Fellbesatz und dicken Handschuhen. Sie blickt in die Ferne, ihr Gesichtsausdruck ist selbstbewußt und heiter

Ich schreibe diese Zeilen bei mir zu Hause in Kuujjuaq, einer Inuit-Gemeinde in Nunavik, Quebec, 1.500 Kilometer nördlich von Montreal, am Übergang von der Baumgrenze zur Tundra. Der arktische Frühling, jene kurze Zeit zwischen Winter und Sommer, in der sich das Leben auf wundersame Weise erneuert, beginnt hier Anfang Juni.

Erst dann wird der Schnee, abgesehen von wenigen Flecken hier und da, vom Erdboden verschwinden und unsere zarten Pflanzen, der Purpursteinbrech, das Feuerkraut und der Mohn, werden anfangen zu blühen. In dieser Zeit treffen auch die ersten Schneeammern ein, auf die all die anderen Zugvögel folgen: Gänse, Enten, Eistaucher und Seeschwalben.

Die Menschen freuen sich derweil, für kurze Zeit den Siedlungen, in denen sie den Rest des Jahres leben, zu entkommen und in die alten Frühlingscamps an der Mündung des Kuujjuaq oder in der Ungava-Bucht zurückzukehren. Dort finden sich oft schon seit Generationen dieselben Inuit-Familien ein. Es ist eine Zeit des Geschichtenerzählens, in der wir uns daran erinnern, wer wir sind.

Hier nimmt unsere Sprache, das Inuktitut, wieder den ihr gebührenden Platz ein. Und hier nehmen unsere Kinder an den traditionellen Alltagsaktivitäten teil: Sie erlernen alle Fähigkeiten, die sie benötigen, um in dieser Umgebung zu überleben und zu gedeihen.

„Gemäß dem westlichen Denken gilt es, die Natur zu erobern, zu zähmen, auszubeuten oder, im harmlosesten Falle, zur ,Erholung‘ zu nutzen“

In unserer Sprache gibt es kein Wort für „Natur“. Die Trennung, die die westliche Welt zwischen Mensch und Natur vornimmt, ist der traditionellen Sichtweise der Inuit fremd, ja, erscheint uns gar gefährlich. Gemäß dem westlichen Denken gilt es, die Natur zu erobern, zu zähmen, auszubeuten oder, im harmlosesten Falle, zur „Erholung“ zu nutzen.

Im Gegensatz dazu sehen sich die Inuit grundsätzlich in ihr und nicht außerhalb von ihr. Diese Einheit mit der Natur symbolisieren schon unsere traditionellen Unterkünfte: Im Winter wohnen wir in „Illuvigait“, Schneehäusern, im Sommer in „Tupiit“, Zelten aus Tierhäuten.

Unser besonderes Verhältnis zur Natur zeigt sich auch in unserer Beziehung zu den Tieren, die uns ernähren: zum einen die „Puijiit“, Meeressäuger wie Robben, Wale und Walrosse; zum anderen die „Pisuktiit“, Landtiere wie Karibus und Eisbären.

Kein anderes Volk ist traditionell so stark auf Tiere angewiesen wie die Inuit. In einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde lieferte ihr Fleisch schon immer alle nötigen Nährstoffe. Aus ihren Häuten nähte man Unterkünfte und Kleidung. Der Blubber, die Fettschicht der Meeressäuger, diente als Brennstoff für sogenannte Specksteinlampen, die „Qulliiq“.

Außer Beeren und Wurzeln, die am Ende des kurzen arktischen Sommers gesammelt wurden, gab es keine Pflanzen, auf die man zurückgreifen konnte, falls die Jagd erfolglos blieb.

„Die Trennung, die die westliche Welt zwischen Mensch und Natur vornimmt, ist den Inuit fremd“

Mit Europäern und Europäerinnen kamen meine Vorfahren erstmals vor rund 200 Jahren in der Ungava-Bucht in Kontakt. Von diesem Moment an wurde unsere Einheit mit der natürlichen Umwelt infrage gestellt. Wie zu Beginn jeder Infektion waren die Symptome anfangs kaum spürbar. Damals bot die Arktis in der europäischen Vorstellung noch nichts, was sich auszubeuten lohnte.

Man tat unser Land als unfruchtbare Wildnis ab, in der unerklärlicherweise einige nomadische »Heiden« lebten. Mit ihren selbst im Sommer vereisten Meeresgebieten erschien die Arktis wie ein Gegner, den es heldenhaft zu bezwingen galt, etwa bei der Suche nach einer Nordwestpassage zu den „Reichtümern des Orients“.

Schließlich kam es dennoch, wie es kommen musste: Wie überall, wo Europäer und Europäerinnen indigene Völker „entdeckten“, folgten auch in der Arktis Handel und Christentum auf dem Fuße.

Wir nannten die Neuankömmlinge „Qallunaat“, „weiße Leute“. Als Erstes trafen Mitarbeiter der Hudson’s Bay Company ein und errichteten im Jahr 1830 einen Handelsposten am Ostufer des Kuujjuaq. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dann eine anglikanische Missionsstation gegründet, 1948 eine katholische.

Nach und nach begannen wir, diese Fremden in unserem Land zu akzeptieren, und mit der Zeit erschloss sich uns auch ihre Lebensweise. Die Neuankömmlinge verboten uns wiederum, unsere eigene Form der Spiritualität zu leben, den Schamanismus, den Trommeltanz und den Kehlkopfgesang, und schließlich konvertierte ein Großteil unseres Volkes zum Christentum.

„Niemand konnte es damals wissen, aber mit den europäischen Händlern drang der erste Keim des Konsumverhaltens in uns ein“

Die europäischen Händler und Händlerinnen brachten viele nützliche Waren mit. Vor allem jene aus Metall, Nähnadeln etwa, Messer, Kessel, Fallen und Schusswaffen waren beliebt; später kamen gewebte Stoffe und Nahrungsmittel wie Mehl, Schmalz, Zucker, Tee und natürlich Tabak hinzu.

Niemand konnte es damals wissen, aber so drang der erste Keim des Konsumverhaltens in uns ein, der später neue Ernährungsgewohnheiten und neue Krankheiten mit sich bringen sollte.

Während dieser ersten Phase, die von Mitte der 1930er- bis Ende der 1950er-Jahre dauerte, arrangierten wir uns mit der ständigen Präsenz von Handelnden und Missionaren in unserem Land.

Zwar lebten wir weiterhin in großen Familienverbänden, die entlang der Küste der Ungava-Bucht verteilt waren. Doch in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren begann sich die kanadische Regierung plötzlich für „ihre Territorien“ im hohen Norden zu interessieren.

Größere Aufmerksamkeit erhielt dieses Gebiet zunächst, als das kanadische und das US-Militär die „Distant Early Warning Line“ aufbaute, eine Kette von Radarstationen, die sich nördlich des Polarkreises von Alaska bis nach Baffin Island in Kanada zog und vor möglichen Raketenangriffen der UdSSR warnen sollte.

Als dann auch immer mehr Bodenschätze entdeckt und ausgebeutet wurden, siedelte man Inuit aus diesen Gebieten um, teils in das kanadische Ödland, die Tundra.

„Wir Inuit wurden als ein Problem betrachtet“

In den frühen 1950er-Jahren verhungerten dort mehrere Menschen. Es dauerte einige Zeit, bis sich die kanadische Regierung zum Handeln entschloss und begann, Inuit in Siedlungen zu verfrachten, die die Hudson’s Bay Company oder die Missionare gegründet hatten.

So wollte man die Verwaltung der kanadischen „Eskimos“, wie wir damals genannt wurden, erleichtern. Wir wurden als ein Problem betrachtet.

Man quartierte uns in neu gebaute Häuser ein, und unsere Kinder wurden in der Schule auf Englisch unterrichtet. Manche Regierungsmaßnahmen schienen damals verlockend, etwa die Sozialhilfe, der soziale Wohnungsbau und die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten.

Heutzutage sehen wir diese Angebote jedoch als das, was sie wirklich waren: Zwangsmaßnahmen unter dem Deckmantel der Wohlfahrt.

Meine eigene Familie zog 1957 in eine Siedlung, früher als die meisten Inuit, die damals in der kanadischen Arktis lebten. Dort, in Old Fort Chimo, wo die Hudson’s Bay Company zu jener Zeit noch einen Handelsposten betrieb, wurde ich geboren.

Anfangs erwarteten wir, dass diese neue Welt, in der wir uns plötzlich wiederfanden, auf ähnlichen Prinzipien basieren würde wie unsere alte. Aber das war nicht der Fall.

„In den Siedlungen lebten wir in einer Blase, getrennt von der Natur“

Es stellte sich heraus, dass sie zutiefst von externen politischen und wirtschaftlichen Kräften abhängig war, die in völligem Widerspruch zu unseren Lebensgewohnheiten standen. Eine Zeit lang dachten wir, dass sich unsere Geduld auszahlen würde.

Doch schon bald hatten wir das Gefühl, die Kontrolle über unser Leben und insbesondere über die Erziehung unserer Kinder verloren zu haben.

Sie wurden gemäß den Konzepten und Regeln der Staatsschulen des Südens unterrichtet, die uns völlig fremd waren. Dort erhielten sie eine Ausbildung, die nichts mit dem Wissen und den Fähigkeiten zu tun hatte, die wir für das Leben in unserem Land brauchten.

Auch alle unsere traditionellen Lehren zur Charakterbildung wurden über Bord geworfen, und unsere sozialen Werte begannen zu erodieren. In den Siedlungen lebten wir in einer Art Blase, abgetrennt von der Natur, und tauschten unsere Autonomie gegen Abhängigkeit ein.

„Wir hatten das Gefühl, die Kontrolle über unser Leben und über die Erziehung unserer Kinder verloren zu haben“

Oberflächlich betrachtet war für all unsere Grundbedürfnisse gesorgt, aber wir verloren mehr und mehr unseren Lebenssinn. Das ist auch ein Grund dafür, dass viele von uns in Süchte und selbstzerstörerische Verhaltensweisen abdrifteten, die durch Arbeitslosigkeit und Armut noch verschlimmert wurden. Dieser Abwärtstrend hat sich über mehrere Generationen hinweg fortgesetzt.

Auf schrecklichste Art und Weise schlägt sich das heute auch in der Selbstmordrate unter jungen Inuit nieder, die zu den höchsten weltweit gehört.

Ich weiß noch, wie völlig schockiert ich war, als ich als Teenager davon hörte, dass sich eine junge Inuit-Frau das Leben genommen hatte. Traditionell war Suizid in unserer Gesellschaft äußerst selten.

Ich bin mir sicher, dass diese tragische Entwicklung, all die Depressionen und die hohe Suizidrate, mit der Sesshaftwerdung und der damit einhergehenden Erosion unserer Kultur und unserer Werte zusammenhängt – und im Besonderen natürlich auch mit den traumatischen Zwangsumsiedlungen, dem Abschlachten unserer Schlittenhunde und den vielfältigen Formen des Missbrauchs durch Personen in Machtpositionen.

„Seit hier Rohstoffe entdeckt wurden, wird die Arktis nicht mehr als Eiswüste sondern als Energiequelle für die Welt betrachtet“

Bei der Umsiedlung vom Land in die Dörfer und in teils städtische Umgebungen wurden der Inuit-Gemeinschaft großer Schaden und Leid zugefügt. Doch in den meisten Siedlungen findet sich zumindest ein harter Kern von Familien, die sich für die Erhaltung unserer Traditionen einsetzen.

Sie bemühen sich um denselben respektvollen Umgang mit dem Land und seinen Ressourcen, der uns vor der Umsiedlung das Überleben ermöglichte.

Heute kommt zu den Herausforderungen, vor denen diese ohnehin schon gefährdete Lebensweise steht, allerdings noch eine weitere dazu: der Klimawandel. Durch ihn wird es noch schwerer, von dem zu leben, was die Natur uns bietet.

Zudem wird die Schnee- und Eisdecke der Arktis, über die wir wandern und auf der wir jagen, zunehmend unberechenbarer und unsicherer. Immer besteht für unsere Jäger das Risiko, auf unerwartet dünnem Eis einzubrechen oder auf Schollen, die plötzlich vom landfesten Eis abbrechen, aufs Meer hinauszutreiben.

„Unsere arktische Heimat ist ein Barometer für die Gesundheit des Planeten“

Vor diesem Hintergrund ist es besonders absurd, dass direkt vor unseren Augen unsere reichen arktischen Mineral- und Ölvorkommen erschlossen werden, mit Anlagen und Pipelines, die die Umwelt zerstören. Unsere diesbezüglichen Bedenken und Ängste wischen Vertreter und Vertreterinnen unserer Regierung regelmäßig vom Tisch.

Seit hier Rohstoffe entdeckt wurden, betrachten sie die Arktis nicht mehr als eine Eiswüste, sondern als die nächste Super-Energiequelle für die Welt. Dabei ist die Zukunft der arktischen Umwelt und der dort lebenden Inuit untrennbar mit jener unserer Erde verbunden.

Unsere arktische Heimat ist ein Barometer für die Gesundheit des Planeten: Wenn wir die Arktis nicht schützen können, dürfen wir dann wirklich hoffen, die Wälder, die Flüsse und das Ackerland in anderen Regionen zu retten?