Familie | Republik Moldau

„Wir lachen und wir weinen zusammen“

Valeriu Pocitari und Valeria Pocitari leben mehr als tausend Kilometer voneinander entfernt – und chatten fast jeden Tag. Ein Vater-Tochter-Gespräch zwischen Moldau und Griechenland

Valeria und ihr Vater Valeriu Pocitari im Sommerurlaub auf der griechischen Insel Kefalonia, 2019

Valeriu Pocitari, Sie sind in Moldau aufgewachsen, haben das Land aber vor 25 Jahren verlassen. Was hat Sie dazu bewogen, nach Griechenland zu ziehen?

Valeriu: In den 1990er-Jahren waren die Lebensumstände in Moldau sehr schwierig. Ich arbeitete als Labortechniker an der Technischen Hochschule von Chișinău. Dort hatte ich auch schon studiert. Aber ich verdiente nur sehr wenig. Darum beschlossen meine Frau und ich, unser Glück anderswo zu suchen, und sind nach Griechenland gezogen.

Im Vergleich zu Moldau erschien es uns damals wie der Himmel auf Erden. Ich habe schnell gute Freunde gefunden, es gab mehr als genug Arbeit und alles war in Ordnung. Am Anfang habe ich vor allem Obst und Gemüse geerntet. Später war ich auf dem Bau, habe Wände abgeschliffen und Mörtel gemischt. Und dann habe ich einige Jahre lang Säcke voller Oliven verladen. Das war die härteste Arbeit, die ich in meinem Leben jemals verrichtet habe. Damals galt noch: Je härter die Arbeit, desto besser verdient man. Meine beiden Töchter Valeria und Irina wurden in Griechenland geboren.

Als Valeria, die jüngere der beiden, in die Schule kam, beschlossen meine Frau und ich, dass es besser wäre, wenn sie in Moldau zur Schule geht. Dort sind die Bildungsmöglichkeiten besser als in Griechenland. Schweren Herzens haben wir beschlossen, dass meine Frau und Valeria zurück nach Ungheni ziehen, und ich und unsere ältere Tochter in Griechenland bleiben. Eigentlich wollten wir nach einer Weile auch nach Moldau zurückkehren, aber meine Arbeit ließ es nicht zu ...

„Ich habe Valeria und meine Frau unglaublich vermisst“

Als Sie, Valeria Pocitari, acht Jahre alt waren, zogen Sie zurück nach Moldau. Welche Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit?

Valeria: Ich erlebte damals zum ersten Mal einen Winter mit Schnee. Das gab es in Griechenland nur in den Bergen. Ich musste mich richtig umgewöhnen, vieles lief anders in Moldau. Auch mein Rumänisch musste ich auffrischen, weil ich in Griechenland vor allem Griechisch gesprochen hatte. Ich hatte Schwierigkeiten mit den anderen Kindern in meiner Klasse ... und es war gar nicht so leicht, die Beziehung zu meinem Vater aufrechtzuerhalten.

Valeriu: Ich habe Valeria und meine Frau unglaublich vermisst. Ich wusste am Anfang gar nicht, wie ich diesen Schmerz lindern sollte. Wir haben jeden Tag telefoniert. Aber mit der Zeit wird das Herz zu Stein, wie man hier in Griechenland sagt. Man hält den Kopf hoch und macht weiter.

In den vergangenen Jahren fand Ihr Alltag in verschiedenen Ländern statt. Wie bleiben Sie über die Distanz in Kontakt miteinander?

Valeria: Im Moment kommunizieren wir vielleicht zwei- oder dreimal pro Woche. Vor allem über Videoanrufe, aber wir schreiben uns auch auf WhatsApp.

Valeriu: Sie erzählt mir, wie es ihr in der Schule geht, ob sie irgendwelche Probleme hat. Und wir schicken uns gegenseitig Fotos.

Über welche Themen reden Sie vor allem?

Valeriu: Valeria erzählt mir von ihren Problemen. Die anderen Kinder im Dorf haben sie früher immer „die Griechin“ genannt. Aber das wurde zum Glück besser. Wir besprechen auch immer, was sie gerade liest. Im Gegensatz zu anderen Kindern, die nur draußen herumstromern, war Valeria immer ein Bücherwurm. Als sie klein war, nannte ich sie liebevoll „meine kleine Enzyklopädie“. Sie sagt mir auch immer, welche Bücher sie sich gerade wünscht. Manchmal versuche ich mit Geschenken wettzumachen, dass ich im Alltag nicht bei ihr sein kann.

Valeria: Im Moment reden wir viel über meine Bewerbungen für die Uni. Manchmal überlegen wir auch, was wir zusammen unternehmen können, wenn wir uns das nächste Mal sehen.

„Meine Töchter sind alles für mich“

Welche Rolle spielt Ihr Vater beziehungsweise Ihre Tochter in Ihrem Leben?

Valeria: Bei ihm fühle ich mich sicher – und im Vergleich zu meiner Mutter sagt er zu so ziemlich allem Ja, was ich mir wünsche. Wir sehen uns ja nicht so oft, und er meint wahrscheinlich, er müsse das irgendwie kompensieren.

Valeriu: Meine Töchter sind alles für mich. Wenn ich an meine Familie denke, hilft mir das, alle Schwierigkeiten zu überwinden und weiterzumachen. Meine Frau und ich haben ja vor allem deshalb im Ausland nach Arbeit gesucht, weil wir unseren Kindern ein besseres Leben ermöglichen wollten. Darum investieren wir in die Bildung unserer Töchter. Früher hat man Töchtern eine Mitgift mitgegeben. Bildung ist unsere Art der Mitgift.

Wie ist Ihre Beziehung zueinander?

Valeria: Wir haben unsere Basis, also eine innige Eltern-Kind-Beziehung, würde ich sagen. Aber wegen der langen Trennung ist sie nicht so stark und selbstverständlich, wie sie sein könnte.

Valeriu: Wir sind uns sehr nahe. Wenn wir in Griechenland Zeit zusammen verbringen, sind wir unzertrennlich. Auch aus der Ferne verstehen wir uns gut. Wenn sie lernen muss, haben wir weniger Kontakt, denn ich möchte sie nicht ablenken. In der Zeit kurz vor dem Abitur habe ich darum eher ihre Mutter angerufen, um mich zu vergewissern, dass es Valeria gut geht.

„Als Valeria noch klein war, dachte ich, ich hätte eine Ewigkeit mit ihr“

Fehlt Ihrer Beziehung etwas?

Valeria: Ja, uns fehlen zehn gemeinsam verbrachte Jahre. Kleine Alltagsmomente, auch wenn sie noch so banal sind, haben wir kaum. Ich weiß, dass ihn das genauso schmerzt wie mich. All die Tage, die wir verloren haben, weil ich hier war und er dort.

Valeriu: Als Valeria noch klein war, dachte ich, ich hätte eine Ewigkeit mit ihr. Aber dann ist sie zurück nach Moldau gezogen und ich war nicht für sie da. Ich habe in dieser Zeit extrem viel gearbeitet, bis spät in die Nacht. Heute denke ich, ich hätte mehr Zeit für meine Familie finden müssen. Das hätte auch meiner Seele gutgetan.

Valeria verabschiedet sich am Ende der Sommerferien 2015 von ihrem Vater, um zurück nach Moldau zu fahren

 

Was war die schwierigste Zeit, die Sie miteinander erlebt haben?

Valeria: Ich glaube, das dürfte die Phase gewesen sein, als ich so 13, 14 Jahre alt war. Damals erschien mir die Welt um mich herum einfach unglaublich kompliziert und ich habe auch meinen Vater dafür verantwortlich gemacht. Ohne Vater durch die Pubertät zu gehen war hart. Nicht, weil mir etwas Bestimmtes gefehlt hätte, aber ich habe unsere Verbindung von früher vermisst. Weil ich verletzt war, habe ich ihn von mir weggestoßen.

Valeriu: Für mich war es besonders schwer, als Valeria gesundheitliche Probleme hatte. Ich machte mir damals große Sorgen um sie, auch weil die Ärzte in Moldau uns das Eine erzählten und die Ärzte in Griechenland das Andere. Bis heute hat sie manchmal noch Beschwerden ...

„Meine Frau war unsere Verbindung, wenn es mal schwierig wurde“

Wie haben Sie diese Phase überwunden?

Valeria: Wir haben viel geredet, das hat geholfen. Und vor allem bin ich auch erwachsener geworden. Okay, ich bin noch nicht ganz erwachsen, aber ich bin ein bisschen reifer. Ich habe das große Glück, dass ich meine Mutter bei mir hatte. Sie hat sich immer sehr dafür eingesetzt, dass mein Vater und ich uns verstehen und in Kontakt bleiben.

Valeriu: Meine Frau war unsere Verbindung, wenn es mal schwierig wurde. Ohne sie wäre Valeria nicht zu der Person geworden, die sie heute ist – und unser Vater-Tochter-Verhältnis wäre auch nicht so gut.

Wie oft sehen Sie sich persönlich?

Valeria: In fast jedem Urlaub. Im Sommer, im Winter und im Frühling, zu Weihnachten, zu Ostern und in den Sommerferien.

Valeriu: Normalerweise fünf oder sechs Mal im Jahr. Dieses Jahr war ich auch auf dem Schulabschlussball von Valeria in Ungheni. Davor haben wir uns allerdings wegen der Covid-Reisebeschränkungen ein ganzes Jahr lang gar nicht gesehen.

„Ich habe keine Worte dafür. Nur positive Gefühle“

Wie fühlt es sich an, wenn Sie sich wiedersehen?

Valeria: Ich bin sehr glücklich.

Valeriu: Ich habe keine Worte dafür. Nur positive Gefühle! Wir umarmen uns, wir weinen und wir lachen zusammen.

Haben Sie gemeinsame Rituale?

Valeriu: Als sie klein war, haben wir uns immer gegenseitig an die Nase gefasst. Ich weiß noch, dass ich eine rote Clownsnase trug, als meine Frau mit ihr aus der Entbindungsstation kam. Ich wollte ihre Aufmerksamkeit, aber natürlich war sie noch ein Baby (lacht). Später habe ich sie dann immer in den Arm genommen und sanft in die Luft geworfen.

Valeria: Bis ich 14 Jahre alt war, haben wir auch zusammen in der Nachbarschaft Weihnachtslieder vorgesungen. Und wenn wir dabei ein bisschen Geld verdient haben, durfte ich es behalten.

Was machen Sie am liebsten miteinander, wenn Sie sich in den Ferien sehen?

Valeria: Ich mag es sehr, wenn wir zusammen schwimmen gehen. Oder wenn Papa mich ins Museum oder ins Planetarium mitnimmt.

Valeriu: Valeria liebt es, wenn wir mit Schnorchel und Maske tauchen gehen. Als sie klein war, hatte sie Probleme mit den Beinen, darum haben wir sie zum Schwimmtraining ermutigt. Bis heute machen wir das in den Ferien. Oder wir gehen zusammen im Wald spazieren.

„Manchmal packt mich diese Sehnsucht völlig aus dem Nichts“

In welchen Situationen vermissen Sie sich gegenseitig am meisten?

Valeria: Vor allem, wenn ich einsam bin, oder wenn in der Schule etwas schiefläuft. Dann wünschte ich mir immer, mein Vater wäre da. Manchmal packt mich diese Sehnsucht völlig aus dem Nichts. Dann frage ich mich, ob er wohl auch an mich denkt. Vor Kurzem haben wir den Geburtstag meiner Mutter im Dorf gefeiert. Alle tanzten und waren glücklich und ich musste daran denken, wie gerne mein Vater dabei wäre. Es gab viel Kuchen – und Papa liebt Kuchen über alles.

Valeriu: Für mich war insbesondere die Anfangsphase hart. Als Valeria mit meiner Frau nach Moldau zurückging, vermisste ich sie nicht nur jeden Tag, sondern jede Stunde. Mit der Zeit hat Gott mir geholfen, mit der Situation umzugehen. Ich habe gearbeitet und alles getan, was ich konnte, damit es meinen Töchtern an nichts fehlen muss. Der Gedanke, dass es ihnen gut geht und dass ich sie jederzeit anrufen kann, hat mir geholfen, wenn ich Valeria besonders vermisst habe.

„Manchmal bin ich neidisch, manchmal melancholisch“

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Familien treffen, in denen die Eltern und Kinder zusammenleben?

Valeria: Manchmal bin ich neidisch, manchmal melancholisch. Ich versuche, mich für diese Familien zu freuen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich meistens neidisch. Es ist keine schlechte Eifersucht. Ich wünsche mir nur das, was sie auch haben.

Valeriu: Ich sage „bravo“, sie haben eine andere Wahl getroffen als wir. Wir wollten unseren Töchtern Bildung ermöglichen. Und weil meine Frau und ich überzeugt sind, dass die Schulbildung in Moldau besser ist als in Griechenland, haben wir unser Zusammenleben dafür geopfert.

Was bedeutet Ihnen Ihre Familie?

Valeria: Für mich bedeutet es die absolute Sicherheit, dass wir gemeinsam Schwierigkeiten überwinden können. Dass wir Zeit miteinander verbringen und dafür sorgen, dass wir uns gegenseitig geliebt fühlen. Es gibt ja das Sprichwort „Heimat ist dort, wo dein Herz ist“. Ich würde sagen: Mein Zuhause ist weder in Griechenland noch in Moldau. Es ist dort, wo meine Familie ist.

Valeriu: Familie ist Anfang und Ende im Leben eines jeden Menschen.

Was ist Ihre schönste gemeinsame Erinnerung?

Valeria: Ich erinnere mich da an einen Tag, an dem mein Vater mich von der Grundschule abholte und mit mir auf den Spielplatz ging. Es hatte gerade geregnet – und ich liebe den Geruch von Regen. Weil ich immer introvertiert war, gefiel es mir besonders, dass wir den ganzen Spielplatz für uns allein hatten.

Valeriu: Für mich war Valerias Geburt ein überwältigender Moment. Sie war ein langersehntes Kind.

Valeria: ... außerdem war Papa derjenige, der mir das Schwimmen beigebracht hat. Wir haben immer nach den tiefsten Stellen im Wasser gesucht und bis auf den Grund des Meeres hinabgeschaut.

Valeriu: Ja, das stimmt! Valeria schwimmt mittlerweile sehr gut, viel besser als ich. Ohne Flossen kann ich sie gar nicht einholen.

 

 

Das Interview führte Aliona Ciurcă