Familie | Uganda

Liebe Mama, lieber Papa, ruht in Frieden!

Verfolgung, Gefängnis, Exil: Die Dichterin Stella Nyanzi hat seit dem Tod ihrer Eltern viel durchgemacht. So viel, dass noch lange nicht alles gesagt ist. Ein Brief an Mutter und Vater
Brustbild einer Frau in einem dunklen Raum, die nach rechts schaut. Sie trägt ein gemustertes Kopftuch und einen passenden Kragen. Sie ist von der Seite beleuchtet, trägt Ohrringe und eine Brille.

Die ugandische Autorin und Aktivistin Stella Nyanzi lebt derzeit im deutschen Exil

Liebe Mama, lieber Papa,

wenn ich noch zu Hause in Uganda wäre, dann würde ich jetzt Eure Gräber auf unserem Ahnenfriedhof besuchen. Ich würde Eure drei Enkel mitbringen und Kränze aus frischen Blumen. Ich würde meine Kinder anweisen, das Unkraut zwischen den Reihen blühender Sträucher zu jäten, die Eure letzte Ruhestätte umgeben, und sie würden den Staub von den Marmorplatten auf Euren Gräbern wischen.

Aber ich bin nicht in Uganda. Ich schreibe diesen Brief, weil ich zurzeit als Schriftstellerin im Exil in Bayern lebe, zusammen mit meinen Kindern. Im Januar 2022 habe ich im Rahmen des Writers-in-­Exile-Programms des PEN-Zentrums Deutschland ein Stipendium erhalten. Dankenswerterweise finanziert das deutsche Ministerium für Kultur und Medien dieses Programm für Menschen wie mich, die wegen ihrer Arbeit verfolgt oder inhaftiert wurden.

Ist es nicht seltsam, dass ich heutzutage sogar dafür bezahlt werde, dass ich meine Meinung äußere?

In vielen Familien meiner Kindheitsfreunde wurden Kinder bestraft, wenn sie es wagten, ihren Eltern zu widersprechen. Ihr hingegen habt unser Zuhause zu einem sicheren Ort auch für kontroverse Diskussionen gemacht. Ich erinnere mich noch gut an die zahllosen hitzigen Debatten, zu denen Ihr meine Geschwister und mich in unserer Kindheit sogar ermutigt habt. Ob kontrovers oder banal: Wir konnten alles ansprechen. Und so haben wir über Feminismus, Kleiderlängen, Masturbation, Softpornos und Sexarbeit gestritten, darüber, wie sich religiöse Texte bei der Haltung, die man zum Thema Homosexualität einnimmt, auslegen lassen, und die Frage, ob Frauen in der Politik eine Rolle spielen sollten. Ich weiß noch genau, wie Papa eigene Skizzen über biologische Abläufe zeichnete, damit er uns genau erklären konnte, was in unseren heranwachsenden Körpern vorging.

„Eure Tode waren vermeidbar“

Gleichzeitig erinnere ich mich daran, wie ich als Teenagerin oft Ärger bekam, weil ich Papas Lebensweise infrage stellte. Er lebte polygam und hatte drei Frauen gleichzeitig. Voller Unbehagen erinnere ich mich daran, wie ich Papa einmal wegen seiner gelegentlichen Gewaltausbrüche gegen Mama anschrie, nachdem sie sich getrennt hatten. Aber im großen Ganzen hatten wir das Glück, dass Ihr uns ermutigt habt, ohne Angst mit Euch zu diskutieren und unsere eigene Meinung zu vertreten. Die vielen Debatten, die wir zu Hause führten, waren ein gutes Training dafür, unabhängig zu denken.

Nun, im Exil, erlerne ich die Freude an der freien Meinungsäußerung aufs Neue. Denn in den Jahren nach Eurem Tod musste ich in einer repressiven Diktatur leben, die Regierungskritiker und Andersdenkende sanktioniert – und auch mich für meine unverblümte Kritik bestraft hat. Ihr beide seid der schlechten Gesundheitsversorgung in Uganda zum Opfer gefallen. Eure Tode waren vermeidbar. Nachdem ihr nicht mehr da wart, sprudelten die verbitterten Gedichte nur so aus meiner Feder. Der Schmerz über meinen Verlust war auch der Anlass für diese regimekritischen Zeilen:

SINNLOSE TODE

Mein geliebter Vater starb grausam
Wie ein Hund.
Vier Jahrzehnte war er Arzt gewesen,
Nun stöhnte und ächzte er auf dem
Rücksitz seines Wagens.
In jener dunklen Nacht saß sein jüngster Bruder am Steuer,
Vergeblich fuhren sie von einer Krankenstation
Zur anderen, auf der fruchtlosen Suche
Nach einem einzigen Fläschchen
Fehlender Medizin.
Sein Tod geht auf das Konto der Diktatur, Die Kugeln und Gewehre über
Medikamente stellt.
„Gebt uns Kugeln und Gewehre, keine Medizin!“


Meine süße Mutter starb sinnlos wie
Ein Frosch.
Sie war Sozialarbeiterin und ein
Patriotisches Mitglied der NRM-Partei,
Nun lag sie unter dem Baum, unter dem
Sie zusammengebrochen war.
Sie war bei Bewusstsein, aber unfähig,
Ihren alten Körper zu erheben.
So wartete sie vergeblich Stunde um Stunde
Auf einen abwesenden Krankenwagen,
Der weder Fahrer noch
Treibstoff hatte. Ihr Tod geht auf das
Konto der Diktatur,
Die große gepanzerte Fahrzeuge den
Krankenwagen vorzieht.
„Gebt uns Black-Mamba-Einheiten  und Polizeiautos, keine Krankenwagen!“*

Ich begann, meine Gedichte auf Facebook zu veröffentlichen. Zunehmend prangerte ich darin an, wie die Regierung auf ganzer Linie versagte, und machte mich auf satirische Weise über die korrupten, brutalen, militanten Politiker lustig. Mein Publikum wuchs; bald schrieb ich nicht mehr nur in den sozialen Medien, sondern für Zeitschriften, Zeitungen und für Radio- und Fernsehsendungen. Schließlich erregten meine Gedichte die Aufmerksamkeit des Machthabers. Präsident Museveni, seine Frau und seine Familie waren nicht gerade erfreut. Ich wurde verhaftet und zu 18 Monaten Haft im Luzira-Hochsicherheitsgefängnis für Frauen verurteilt.

Meine Gedichte hätten den Seelenfrieden der Präsidentenfamilie gestört, so die Anklage. Um andere engagierte Dichterinnen und Dichter davon abzuhalten, die Versäumnisse seiner Regierung zu kritisieren, bestrafte Museveni mich besonders hart. Nach 16 Monaten im Hochsicherheitsgefängnis wurde das Urteil vom High Court aufgehoben, und so kam ich im Februar 2020 frei.

Ich bin froh, dass Ihr diese und andere Ungerechtigkeiten nicht mehr miterleben musstet. Meine ungerechtfertigte Inhaftierung hätte Euch beiden bestimmt sehr zu schaffen gemacht. Und gleichzeitig gehe ich davon aus, dass Ihr manche meiner derben Formulierungen gegenüber Museveni nicht gutgeheißen hättet. Ich bin mir aber ebenso sicher, dass Ihr nicht versucht hättet, mich von meinem Protest gegen die repressive Diktatur abzubringen. Hätte mein Mut Euch mit Stolz erfüllt? Ich hoffe, dass Ihr  im Stillen begeistert gewesen wärt, dass ich, Eure Tochter, dazu fähig war, diesen Tyrannen herauszufordern.

„Mama, ich glaube, du wärst stolz auf mich gewesen“

Einen Monat nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde die Welt von Covid-19 heimgesucht. Papa, als Mediziner wärst du dir über die weitreichenden und vielfältigen Auswirkungen dieses hochansteckenden Virus im Klaren gewesen. Die Epidemie wirkte sich nicht nur auf die Wirtschaft und die Finanzwelt aus, sondern sie verstärkte auch die Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern. Die Suche nach wirksamen und bezahlbaren Impfstoffen und deren anschließende Verteilung machten einmal mehr deutlich, welche brutalen Folgen die systemische Ungerechtigkeit und die soziale Ungleichheit haben.

Mama, ich glaube, du wärst stolz auf mich gewesen, als ich Kampagnen gegen das Unrecht organisierte, das armen Menschen mit den teils brutalen Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 angetan wurde. So demonstrierten hungrige Mütter friedlich wegen verspäteter Lebensmittellieferungen, arbeitslose Händlerinnen und Händler gegen die fortgesetzte diskriminierende Schließung ihrer Geschäfte und Studierende versammelten sich zu Protesten nach der Ermordung eines Studenten durch Sicherheitskräfte, der während der Ausgangssperre einen Spaziergang gemacht hatte.

Während des Covid-19-Lockdowns habe ich mich bei den Nationalwahlen für einen der Parlamentssitze, die im Wahlbezirk Kampala für Frauen vorgesehen sind, beworben. Papa, genau wie damals, als Du im Juni 2001 für das Parlament kandidiert hast, befand sich nun – rund zwanzig Jahre später – mein Name samt Foto auf den Wahlzetteln unseres Landes. Selbst in schwierigen und herausfordernden Phasen des Wahlkampfes weigerte ich mich aufzugeben. Ich erinnerte mich daran, wie du damals durchgehalten hast, selbst als klar war, dass du die Wahl verlieren würdest. Das gab mir Kraft.

„Obwohl ihr physisch nicht mehr hier seid, liebe Mama und lieber Papa, lasse ich mich weiterhin von Euch inspirieren.“

Weil ich als Parlamentskandidatin eine gewisse Bekanntheit erlangte, konnte ich die Auswüchse der Staatsmacht, die ständigen Menschenrechtsverletzungen und die Übergriffe gegen die ugandische Bevölkerung medienwirksam anprangern. Du, Mama, warst mir dabei eine Inspiration, denn du hast dich, seit ich denken kann, öffentlich für Witwen, Waisen, für geschiedene und verstoßene Ehefrauen eingesetzt. Während des Wahlkampfs war ich vorübergehend vor politischer Verfolgung geschützt, auch wenn ich die Regierung leidenschaftlich anging. Ich verlor zwar das Rennen, aber lernte alle Ecken Kampalas kennen und gewann tiefe Einblicke in die aktuelle Politik Ugandas. So wurde ich zu einer der führenden Regierungskritikerinnen des Landes.

Die Nationalwahlen wurden schließlich überschattet von Massenverhaftungen, Entführungen, Verhören unter Folter und Lynchmorden. Die Opfer waren ausnahmslos Oppositionelle. Am 26. Dezember 2020 drangen maskierte und bewaffnete Personen in das Haus meines Wahlkampfberaters Hajj Asuman Semakula ein, verfrachteten ihn in einen Minivan und verschleppten ihn. Drei Wochen später, am 18. Januar 2021, traf es meinen Freund David Musiri, als er gerade Snacks und Getränke kaufte.

Die Kidnapper zwangen ihn in den Kofferraum eines Wagens und fuhren davon. Durch die beiden Entführungen von mir sehr nahestehender Personen wurde mir klar, dass mein Leben in Gefahr war. Ich packte nur ein paar Koffer, floh mit meinen drei Kindern über die Grenze nach Kenia und begab mich dort mit ihnen in ein gesichertes Haus. So wie unser östliches Nachbarland Euch, liebe Eltern, in den 1980er-Jahren Zuflucht bot, so schützte Kenia meine Kinder und mich vor der drohenden politischen Verfolgung in unserer Heimat.

Nach und nach offenbarte sich jedoch auch dort ein dichtes Netzwerk von Spionen und Geheimdienstmitarbeitern, die ugandische Dissidentinnen und Dissidenten denunzierten. Man musste ständig auf der Hut sein. Deshalb war ich heilfroh, als ich per Zufall Konrad Hirsch begegnete, einem deutschen Filmemacher, der meine Bewerbung für das Writers-in-Exile-­Programm des PEN-Zentrums Deutschland weiterleitete und damit den Grundstein für mein jetziges Exil in Deutschland legte.

„Ich vermisse euch“

Obwohl ihr physisch nicht mehr hier seid, liebe Mama und lieber Papa, lasse ich mich weiterhin von Euch inspirieren. Ich beschäftige mich mit lokaler, nationaler und internationaler Politik, weil mich Papas Engagement geprägt hat. Dass Mama Sozialarbeiterin war, hat mir von klein auf geholfen, einen Sinn für soziale Gerechtigkeit zu entwickeln.

Auch in meinen Kindern erkenne ich häufig Eure Charakterzüge wieder. Kato ist genauso sparsam wie Papa und verwaltet unsere Familienfinanzen. Sein Zwillingsbruder Wasswa liebt es, leckere Gerichte zu kochen – genau wie Mama es tat. Und ihre Schwester Baraka kümmert sich um uns alle, so, wie Ihr es ihr beigebracht habt. Sie sorgt dafür, dass wir unsere neuen deutschen Nachbarinnen und Nachbarn kennenlernen.

Es ist eine große Ehre für mich, Euer politisches und soziales Vermächtnis zu erfüllen, zu Lebzeiten mit meinem Engagement und in Zukunft hoffentlich durch meine Kinder.

Ich vermisse euch. Ruht in Frieden, liebe Mama und lieber Papa!

Eure Euch liebende Tochter Stella

*Aus: “No Roses from My Mouth: Poems from Prison” von Stella Nyanzi, Ubuntu Reading Group, Kampala, 2020.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter