Alltag | Afghanistan

Spaziergang durch Kabul

Mädchen, die in Müllhaufen wühlen, und kaum noch Autos auf den Straßen: Die afghanische Hauptstadt hat sich verändert. Eine Autorin nimmt uns mit in ihre Nachbarschaft

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages werfen ihren goldenen Glanz auf die hohen Gipfel der Berge rund um Kabul. Es ist noch früh am Morgen, und ich trete aus dem Haus meiner Familie. Vor mir überquert ein Vater mit seinen Kindern die Straße, wahrscheinlich bringt er sie zur Schule. Ein Mädchen ist auch darunter. Es ist noch klein, besucht vielleicht die zweite oder dritte Klasse.

Vor dem 15. August 2021 war in den Straßen meiner Nachbarschaft um diese Zeit immer viel los. Autos drängten sich und hupten laut. Grüppchen von Jugendlichen gingen lachend und plaudernd mit eiligen Schritten zur Schule oder zur Universität. Doch seit die Taliban erneut die Macht erlangten, hat sich das Bild auf den Gehwegen Kabuls verändert. Ruhiger ist es geworden, und männlicher.

„Alle Anzeigetafeln sind verschwunden. Wozu sollten sie auch noch gut sein?“

Während ich langsam die Straße hinunterlaufe, fällt mein Blick auf die Hauswände. Früher hingen auf beiden Seiten der Straße große Anzeigetafeln, die für private Bildungseinrichtungen warben. Jetzt sind sie verschwunden. Wozu sollten sie auch gut sein? Mädchen ist es mittlerweile verboten, sich jenseits der sechsten Klasse weiterzubilden, und die Gebühren könnte sich sowieso kaum jemand leisten.

Taxis warten am Straßenrand auf Kundschaft – aber niemand steigt ein. Auch das überrascht mich nicht: In den vergangenen Monaten haben sich die Tarife verdoppelt. Mein morgendlicher Weg führt mich an einer vierspurigen Straße entlang, die mitten durch Kabul verläuft. Die Luft ist klar und sauber, über mir der strahlend blaue Himmel.

Noch vor wenigen Monaten stauten sich hier die Autos, aber jetzt sind kaum welche unterwegs. Die Taliban haben von der vorherigen Regierung zwar deren Fuhrpark übernommen, aber man braucht Treibstoff, um damit zu fahren. Und der ist knapp.

Während ich von der Abdul-Haq-Kreuzung zur Massoud-Kreuzung laufe, sehe ich, dass die Straße, der Gehweg und die angrenzenden Häuserwände beschädigt sind. Es sind die Spuren von Explosionen, die tiefe Löcher in den Asphalt gerissen haben. Die sichtbaren Überbleibsel von Selbstmordattentaten, die auf diesem Straßenabschnitt stattfanden und viele unschuldige Menschen mit in den Tod rissen. Diese Stelle haben sich die Attentäter wohl deshalb ausgewählt, weil sich auf beiden Straßenseiten viele Läden befinden. 

„Mädchen mit Säcken auf dem Rücken wühlen mit bloßen Händen in Müllhaufen“

Ich halte mich rechts. Am Straßenrand fallen mir eine Frau und ein hageres Mädchen auf. Beide sehen so aus, als hätten sie schon lange keine volle Mahlzeit mehr zu sich genommen. Ihre langen Kleider und die Umschlagtücher sind abgetragen. Ob sie wohl Mutter und Tochter sind? Sie haben große Plastiksäcke geschultert. Suchend schauen sie sich um. Als das Mädchen die leere, zerbeulte Dose eines beliebten Energydrinks am Straßenrand entdeckt, hebt sie sie eilig auf und lässt sie in ihrem Sack verschwinden.

Ich gehe weiter und sehe an der nächsten Ecke mehrere Mädchen mit Säcken auf dem Rücken, die mit bloßen Händen in einem Müllhaufen wühlen. Der üble Geruch verdorbener Früchte steigt mir in die Nase – eilig bedecke ich das Gesicht mit meinem schwarzen Umschlagtuch und wechsle auf die andere Straßenseite.

Immer wieder muss ich meinen Schleier zurechtrücken. Ich möchte nicht, dass er mir vom Kopf rutscht und mich womöglich genau in einer solchen Situation ein Beamter des Tugendministeriums sieht. Eine Rüge wäre mir sicher. Mein Schleier reicht bis auf den Boden. Manchmal verfange ich mich mit den Schuhen darin.

Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, langsamer zu laufen und meine Schritte mit Vorsicht zu machen. Oh! Ein lautes Knattern pfeift wie eine Gewehrkugel an meinem Ohr vorbei. Der Luftsog des vorbeirasenden Motorrads bringt meinen Schleier in Unordnung. Ich strauchle und blicke ihm hinterher. Zwei Taliban sitzen darauf, mit alten Gewehren über den Schultern. 

„Alle Männer sehen mittlerweile aus wie Taliban“

Am Ende der Straße sehe ich eine Betonmauer, die von einer weiteren, noch höheren Mauer überragt wird. Ich weiß, dass dahinter die Zitadelle steht, der ehemalige Präsidentenpalast. In den letzten zwanzig Jahren war er für ranghohe Mitarbeiter des Staatsoberhauptes und das Personal der amerikanischen Botschaft geöffnet. Jetzt sind die Tore verschlossen. In der Nähe der Mauer tummeln sich weitere Taliban. Einige stehen, andere sitzen an kleinen Tischen, doch alle tragen sie Waffen.

Obwohl – die Männer sehen mit ihren langen Hemden und dem traditionellen afghanischen Turban zwar aus wie Taliban, aber sicher kann ich mir nicht sein. Denn alle Männer sehen mittlerweile aus wie Taliban. Sie haben Bärte, manche kürzer, andere länger. Auch diejenigen, die früher nur glattrasiert vor die Tür gegangen wären. Auf den Tischen stapeln sich kleine und große Flaggen, sie alle sind weiß.

Es ist die neue, alte Flagge des islamischen Emirats Afghanistan: Die Schahada ist darauf gedruckt, schwarz auf weißem Grund. Wieder hat Kabul seine Farbe gewechselt. Für die Bewohnerinnen und Bewohner ist das nichts Neues. Mit den häufigen Machtwechseln über die vergangenen Jahrzehnte haben die jeweiligen Herrscher der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. So wie sich deren Vorstellungen und Wünsche unterschieden, so musste auch Kabul seine Farbe ändern.

„Das Grün, Schwarz und Rot der alten Nationalflagge ist kaum mehr zu sehen“

Das Grün, Schwarz und Rot der alten Nationalflagge ist kaum mehr zu sehen. Auf beiden Seiten der Straße, die vom Ahmad-Schah-Massoud-Platz zum Flughafen führt, weht jetzt nur noch das Weiß des Emirats im Wind. Während ich in Richtung Stadtzentrum weiterlaufe, passiere ich eine Mauer mit Wandmalereien, die ehemalige afghanische Herrscher zeigen. An einer Stelle heben mehrere Passanten ihre Köpfe: Dort befindet sich das Bild der Kämpferin und Dichterin Nazo Ana, noch dazu unverschleiert. Sie lebte im frühen 18. Jahrhundert und gilt als Mutter aller Afghanen.

Es überrascht mich sehr, dass das Bild noch nicht übermalt wurde, denn die Taliban verachten Bilder – und ganz besonders solche, die Frauen zeigen. Gerne möchte ich die Straße fotografieren, aber ich habe Angst, dass die Taliban mich sehen und mir das Handy wegnehmen. Während ich weiterlaufe, präge ich mir das Bild genau ein. Vielleicht sehe ich es zum letzten Mal.

Die Neubaublöcke im Mikrorayon-Viertel stehen da, wie sie es immer taten, und sind doch anders als zuvor. Auf den Wegen zwischen den Gebäuden sind Spuren der Gewalt zu erkennen: Einschusslöcher, Krater von Raketeneinschlägen und das ganze Ausmaß an Zerstörung, das durch Selbstmordattentate entsteht. Diese Häuser waren in den 1960er-Jahren von den Sowjets errichtet worden.

Zur Zeit der Besatzung lebten hier russische Berater und Regierungsangestellte mit ihren Familien. Hier gab es keine armen Menschen. Seither wurden die Bewohner dieser Wohnblöcke dreimal vollständig ausgetauscht: das erste Mal beim Einmarsch der Mudschaheddin nach dem Abzug der sowjetischen Truppen. Das zweite Mal mit der ersten Machtergreifung durch die Taliban. Und nun zum dritten Mal nach der erneuten Machtergreifung.

„Kaum jemand kann sich eines der Apartments leisten“

Die Eigentümer dieser Apartments sind ins Ausland gegangen, und jedes wurde inzwischen mehrmals verkauft. Eine Zweizimmerwohnung konnte man früher für 200 US-Dollar mieten und für 120.000 kaufen. Jetzt ist der Preis auf 30.000 bis 40.000 Dollar gesunken. Doch niemand kann sie sich leisten.

Zwischen den Wohnblöcken sehe ich mehrere Männer am Straßenrand betteln. Früher verdienten sie ihr Geld, indem sie mit ihren Lastkarren die Einkäufe der Leute nach Hause fuhren. Jetzt sitzen sie dort bis zum Abend auf ihren leeren Karren und hoffen, dass ihnen jemand Geld für ein Fladenbrot gibt. Ich habe einen Einkaufsbeutel in der Hand. Immer wieder ruft einer von ihnen: Liebe Frau! Ich bringe Ihnen Ihren Einkauf nach Hause! 

Doch auch ich habe kein Geld übrig. Wenn ich durch die Straßen laufe, nehme ich mich immer vor Dieben in Acht und trage mein Handy und mein Geld unter meinem Umschlagtuch verborgen. Aber mittlerweile gibt es nicht mehr so viele Diebe. Die Bestrafungen der Taliban sind so brutal, dass viele es nicht mehr riskieren wollen. 

Ich halte mich links der Wohnblöcke und gehe weiter in Richtung Markt. Hier herrschte immer reges Treiben. Viele Frauen und Mädchen kamen täglich her, um Kleidung, Spielzeug, Lebensmittel und andere Dinge zu kaufen. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die Karren, die auf beiden Seiten der Straße stehen, sind voll mit allem erdenklichen Obst.

Mit kraftvoller Stimme preisen die Verkäufer ihre Waren an: Süßkirschen! Süßkirschen! Vierzig Afghani das Kilo!, Wassermelonen! 150 Afghani!, Honigmelonen! Hundert Afghani!, Aprikosen! Das Kilo nur vierzig Afghani! Das Obstangebot ist üppig, und die Preise sind niedrig, aber kaum jemand kauft etwas. Viele Menschen sind so arm, dass sie nicht einmal wissen, woher sie einen Kanten Brot bekommen können. Wie sollen sie sich da Obst leisten können?

„Hier, im Mikrorayon-Viertel tragen die wenigsten Frauen eine Burka“

Die Taliban sagen, dass eine Burka die beste Art ist, sich zu verschleiern. Doch hier, im Mikrorayon-Viertel tragen die wenigsten Frauen eine. Einige haben nicht einmal das geforderte schwarze Umschlagtuch über den Kopf gelegt. In den Provinzen ist es umgekehrt: Dort haben fast alle Frauen eine Burka an und wundern sich, wenn sie eine Frau sehen, die nur ein schwarzes oder gar ein farbiges Tuch übergeworfen hat.

Eigentlich besteht sogar die Pflicht für alle Afghaninnen, ihr Gesicht zu verbergen. Doch hier in der Gegend laufen viele junge Frauen und Mädchen ohne Furcht und Angst umher, sie verschleiern sich nicht. Auf dem Markt sehe ich, wie ein Taliban ein vielleicht siebenjähriges Mädchen anfährt, es solle doch seinen Kopf bedecken. Und ich beobachte eine junge Frau, die weder Verschleierung noch Kopftuch trägt. Ein Taliban fordert sie auf, sich zu bedecken. Doch sie schaut ihm in die Augen und geht weiter, als sei nichts geschehen.

Mein morgendlicher Weg endet am Kiew-Park. Er liegt neben dem Ministerium für Stadtentwicklung und ist wie immer voller Menschen. Die Männer sind auf einer Seite des Parks und die Frauen auf der anderen. Nach der Machtergreifung der Taliban war es Frauen zunächst verboten worden, den Park zu betreten. Doch es dauerte nur zwei oder drei Tage, bis sie wiederkamen.

Die Taliban haben nicht die Kraft, alle Frauen zu Hause zu halten. Sie stehen in Gruppen zusammen, plaudern und schütten sich gegenseitig ihr Herz aus. Überall sind Kinder. Auf dem Spielplatz gibt es auch eine Rutsche, aber die ist kaputt. Das Murmeln der Frauen, das Johlen und Kreischen der Kinder verschwimmen in meinen Ohren und werden zu einer einzigen Geräuschkulisse. Ich atme tief durch. Das ist Kabul, trotz allem.

Aus dem Paschto von Lutz Rzehak

Lesetipp: Eine Kurzgeschichte von Nargis erschien anonymisiert in der Sammlung “My Pen Is the Wing of a Bird: New Fiction by Afghan Women” (2022, MacLehose Press). Die Anthologie versammelt achtzehn Geschichten afghanischer Autorinnen über Familie, Arbeit, Kindheit, Freundschaft, Krieg, Geschlechteridentität und kulturelle Traditionen, herausgegeben von „Untold – Afghanistan“.