Alltag | Argentinien

Ins eisige Wasser

Wie fühlt es sich an, im südamerikanischen Sommer in einen See aus geschmolzenem Schnee zu springen?
Über Baumwipfel hinweg sieht man den See mit einer Insel, dahinter erheben sich Berge.

Blick auf den Nahuel-Huapí-See in Argentinien

Ich trete auf den Kiesstrand des Nahuel-Huapí-Sees in Patagonien. Meine Füße stehen im kristallklaren Wasser, meine Atmung beschleunigt sich in Erwartung des morgendlichen Bades. Alles ist unmittelbar. Der Wellenrand, der das Wasser vom Ufer trennt. Dieser noch schläfrige Körper, bereit für die Wasserwelt, die mich erwartet. Eisig und makellos spiegeln sich die aufragenden Anden in der Wasseroberfläche des Sees, dunkelgrün-bläuliche Hänge, gewebt aus den Wipfeln der Araukarien, Kiefern, Coihuen und Myrten. Weiter weg, als würde sie auf dem Wasser treiben, liegt die Isla Victoria.

Es ist noch früh in der kleinen Bucht von Villa La Angostura, die Januarsonne wird gerade erst munter. Die blau-weiß gestrichenen Boote liegen vor Anker, schlummern noch, reglos. Nichts bewegt sich. Sobald ich ins klare Wasser eintauche, bekomme ich eine Gänsehaut. Der diesjährige heiße südamerikanische Sommer ist fast vorbei, doch der See ist eiskalt; er nährt sich vom weichen Schnee, der in Flüssen das Mapuche-Bergland formt.

 „Der Himmel ist blau, wolkenlos“

Mein Körper, eben noch in Laken gewickelt und träge, taucht nun schnell in den Nahuel Huapí ein, schwebt zwischen zwei Welten. Auf dem kleinen Strand von grauen und goldgelben Kieselsteinen landet plötzlich ein Weißhalsibis auf Nahrungssuche, während weit oben zwei junge Adler über uns hinwegsegeln. Der Himmel ist blau, wolkenlos.

Die argentinische Familie schläft noch in der gemieteten Holzhütte. Vor wenigen Tage sind mein Freund und ich aus England angekommen, der Winter schien sich an unsere Schuhsohlen geheftet zu haben. Wundersamerweise wird hier im stillen See die Atmung ruhiger. Ich schwimme langsam, in präzisem Rhythmus, fließend wie die Arme und die Beine, die ich jetzt wie Flossen von mir strecke. Erinnere mich an das Gedicht, das ich geschrieben habe, „Unterströmungen“:

„Ich schwimme hin / zu ihm
und bewege mich / weg / treibend
wir verstecken uns / drinnen
es ist dunkel / und doch / Licht
das wir atmen / um die Nacht / zu sehen
ich bin hier / draußen / keine See
der Ritus / ein Code
wir sind hier / tauch unter / wir tauchen
dich an den Händen / zu fassen / stattdessen
so nah / zu sein / drinnen
ich taste / du fürchtest / die See
ich bin hier.“


Ich spüre, wie das Wasser zwischen meinen Fingern hindurchströmt, eine zärtliche Berührung aus Eis, wie Nadelstiche, porenöffnend. Alles ist direkter Sinnesreiz. Jede Ader, jeder Muskel ist aufgewacht. Das Blut fließt schnell, während mein Körper driftet, in keine bestimmte Richtung schwimmt. Der Geruch des Sees umhüllt mich wie eine eisige, wunderbare und vollkommene Decke. Ich bin dieser ganze Körper, der dahintreibt, während ich meinen schlichten Atemzügen an der Seeoberfläche lausche und weiter weg die patagonischen Drosseln auf den Zweigen der Bäume zwitschern.

„Ich schwimme schneller, bin Teil des Sees im Licht“

Langsam dehnt sich die Brust, ich atme tief ein, wechsle die Schwimmart: von Brust zu Kraul. Nun taucht der Kopf unter, die Kälte rinnt über Nacken, Wangen, Augen, Stirn. Alles ist Kitzel und Erregung. Der Körper wird lebendig. Ich schwimme schneller, bin Teil des Sees im Licht der allmählich höher steigenden Sonne. Stakkatoartige Armzüge, Wassermelodie dieses Freitags im Sommer. Die Bucht sieht anders aus, heller. Ich atme das tiefe, eisige Wasser ein, das mich umgibt.

Ich bin noch derselbe, und doch hat sich schon etwas verändert, als wäre ich im See neugeboren.

Aus dem Spanischen von Laura Haber