Architektur | Polen

„Beim Bauen musst du dich zu den Wurzeln vorarbeiten“

Der New Yorker Architekt verbrachte seine Kindheit in Lodz und wurde später mit Bauten wie dem Jüdischen Museum in Berlin weltberühmt. Im Interview spricht er über Heimatverbundenheit und darüber, wie die polnische Architektur mit der Geschichte des Landes umgeht

Ein älterer Herr mit Brille schaut lächeln in die Kamera. Hinter ihm sind undeutlich Bäume und graue Fassaden zu sehen. Der Herr trägt weiße kurze Haare, eine schwarzes offenes Hemd und ein schwarzes T-Shirt.

Daniel Libeskind im Sommer 2021

Interview von Jess Smee

Herr Libeskind, Sie wurden in Lodz geboren und verließen Polen, als Sie elf Jahre alt waren. Wie prägend war diese Zeit für Sie?

Die polnische Kultur hatte sehr großen Einfluss auf mich. Sie hat eine reiche Vergangenheit und Gegenwart, und ich finde sie inspirierend. Auch die polnische Landschaft hat mich nachhaltig geprägt, die eindrucksvolle Natur und so geschichtsträchtige Städte wie Krakau und Warschau. Vom Facettenreichtum der polnischen Geschichte hat die Welt kaum eine Ahnung. Geschichtlich und kulturell hatte dieses oft von fremden Mächten besetzte Land mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen – daher der instinktive Freiheitssinn der Polen.

Ist dieser Freiheitssinn auch Ihnen eigen?

Auf jeden Fall. Die Polinnen und Polen haben eine großartige, unbeugsame Mentalität, auch unter sehr schweren Bedingungen. Die polnische Kultur hat die Weisheit, die sich im Laufe der langen und wechselvollen Geschichte des Landes entwickelte, aufgenommen und sich damit angereichert.

„Viele Jahre hielten meine schlechten Erinnerungen mich davon ab, nach Polen zu fahren“

Wie sind Sie aufgewachsen? Welche Erinnerungen haben Sie an das kommunistische Polen?

Es waren finstere Zeiten. Ich habe sehr intensive und ungute Erinnerungen an den Kommunismus, die Unterdrückung und den Antisemitismus. Ich hatte dauernd Angst, dass meine Eltern verhaftet werden. Sie waren nicht assimilierte Juden, haben sich nicht integriert und waren stolz auf ihre Identität. Ich spürte, dass auf dem Land der dunkle Schatten eines totalitären Systems lag.

Welche Gefühle hatten Sie, als Sie 2005 nach Polen und nach Warschau zurückkamen, um an dem Wohnhochhaus Złota 44 zu arbeiten – ganz in der Gegend, wo Ihre Mutter in ihrer Kindheit lebte?

Viele Jahre hielten meine schlechten Erinnerungen mich davon ab, nach Polen zu fahren. Bei meiner Rückkehr kam ich jedoch in ein komplett verwandeltes Land. Die Leute waren frei; die Schatten hatten sich aufgelöst.

Polen hatte keine Ähnlichkeit mit dem Land, das ich als Kind erlebt hatte. Eine so dramatische Verwandlung habe ich noch nie irgendwo beobachtet. Nachdem ich den Wettbewerb für ein Wohngebäude gewonnen hatte, wurde Złota 44 dort gebaut, wo früher das jüdische Viertel war.

Auf der anderen Straßenseite steht ein waschechtes Symbol der Unterdrückung: der auf Anordnung Stalins errichtete Kultur- und Wissenschaftspalast, an den ich mich aus Kindertagen erinnere. Er wurde zum Symbol der Gewalt, und mein Gebäude steht direkt gegenüber.

Złota 44 ist eine Entgegnung, eine Freiheitsgeste – wie ein Adler, der sich wieder frei in die Lüfte erhebt. Es ist nur ein Wohnhaus, aber mit seiner skulpturalen und geschwungenen Gestalt sagt es: Das Zentrum dieser schönen Stadt soll nicht von Bauten dominiert werden, die für Totalitarismus und Autoritarismus stehen.

Welche Botschaft möchten Sie den Warschauerinnen und Warschauern mit diesem Bau vermitteln?

Aus rechtlichen Gründen durfte ich das Gebäude nicht höher bauen als den stalinschen Propagandabau auf der anderen Straßenseite, obwohl ich das gern getan hätte. Ich hoffe, dass der Kulturpalast mit der Zeit seine prominente Stellung verliert und als Erinnerungsstück in den Hintergrund rückt.

Die ganze Gegend war ja früher ein jüdisches Viertel – eine vollständige Stadt in der Stadt, die von den Deutschen, von Stalin und den Kommunisten restlos zerstört wurde. Die Errichtung des Wohnhauses ist ein Signal, dass Warschau trotz seiner schrecklichen und tragischen Geschichte eine wunderschöne Stadt ist. Das Haus lenkt den Blick auf Warschaus Zukunft.

„Jeder Ort ist einzigartig und erzählt dir etwas, das nicht offen zutage tritt“

Sie blicken bei Ihrer Arbeit immer wieder in die Vergangenheit zurück: 2019 haben Sie im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau die Installation „Through the Lens of Faith“ errichtet, die 21 Farbportäts von Juden, polnischen Katholiken und Sinti zeigt, die das Lager überlebt haben. Wie nähern Sie sich einer Architektur, die geschichtlich so stark aufgeladen ist?

Wer sich mit der Schoah oder dem Holocaust auseinandersetzt, trägt eine große Verantwortung. Man muss das eigene Ich, das eigene Dasein in den Raum hineingeben. Meine Eltern haben den Holocaust überlebt, und ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Diese Themen haben deshalb für mich eine große emotionale Bedeutung. Und wenn man sich an einen Ort wie Auschwitz begibt, muss man natürlich das Ohr an den Boden legen und die Stimmen vernehmen.

Jeder Ort ist einzigartig und erzählt dir etwas, das nicht offen zutage tritt. Du musst auf Tuchfühlung gehen mit dem, was nicht zu hören und nicht zu sehen ist. Geschichte ist nicht bloß Information, sondern ein Lebensquerschnitt. Wenn du etwas Sinnhaftes bauen willst, musst du dich zu den Wurzeln vorarbeiten.

Wie haben die Menschen auf die Installation reagiert?

Die Arbeit steht vor den Toren von Auschwitz. Dort kommen Millionen von Besuchern vorbei, und viele berichten, dass die Porträts sie berührt haben. Den Menschen ist bewusst, dass Geschichte nicht bloß Vergangenheit, sondern auch Zukunft bedeutet. Das Geschehene – ein Genozid, ein Mord oder die Schoah – ist unumkehrbar. Was vergangen ist, lässt sich nicht ändern; es ist vorbei. Die Zukunft kann besser werden, wenn du Hoffnung und Menschlichkeit hineingibst. Du kannst ihr eine positive Wendung geben.

Wie empfinden Sie den derzeitigen Umgang polnischer Politiker mit der Vergangenheit?

Wenn wir vor der Vergangenheit die Augen verschließen, statt uns ihr zu stellen, bewirken wir nur, dass sie wiederkehrt und uns vor sich hertreibt. Eine Regierung kann verlogene Narrative stricken, aber die Wahrheit aufhalten kann sie nicht. Polens Versuche, die Geschichte schönzureden, sind erschreckend, aber zum Scheitern verurteilt.

„Ich wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen zusammenkommen und über ihr kulturelles Erbe nachdenken“

Im April dieses Jahres sind Sie in Ihre polnische Heimatstadt Lodz gefahren, um ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Wie war das?

Nach etlichen Jahrzehnten die eigene Heimatstadt neu zu entdecken und festzustellen, dass es immer noch dieselbe Stadt ist, war eine überwältigende Erfahrung. Die Straßen und das Stadtbild sahen fast exakt so aus wie in meiner Kindheit. Ich hätte mir gewünscht, dass die Stadt sich in all den Jahren stärker verändert hätte.

Sie hat einiges aufzuholen, aber ihre Schönheit hat sie sich bewahrt. Ich empfinde sie als ausgesprochen kreativ, nicht nur wegen der Filmhochschule und des Kunstmuseums, sondern vor allem wegen der Menschen, die dort leben: Es ist eine Vier-Kulturen-Stadt, ein Gemeinschaftsprodukt von Polen, Deutschen, Russen und Juden, das sich in rasender Geschwindigkeit beinahe aus dem Nichts zu einem gewaltigem Industrieschwerpunkt entwickelte.

Mit Ihrem Projekt Nexus21 wollen Sie die Altstadt von Lodz mit Wohn- und Geschäftsgebäuden und Kulturbauten wie einem von Ihnen entworfenen Architekturzentrum „revitalisieren“. Wie setzen Sie die Vergangenheit der Stadt und ihre Zukunft zueinander in Beziehung?

Lodz ist mit toller Architektur gesegnet, mit vielen Fabrikgebäuden aus dem 19. Jahrhundert und Mietshäusern aus der Blütezeit der Industrialisierung. Das Projektgebiet liegt genau dort, wo ich als Kind gewohnt habe. Die Schule, die meine Schwester und ich besuchten, war nur einen Steinwurf entfernt. Ein Gebäude wie das Architekturzentrum zu entwerfen, das sich in diesen Kontext einfügt, war eine große Herausforderung.

Es sollte etwas entstehen, das nicht einfach nur fremd anmutet, sondern sich mit den Größenverhältnissen und dem historischen Baubestand verträgt. Und ich wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen zusammenkommen, um eine gute Zeit zu haben und gleichzeitig über ihr kulturelles Erbe nachzudenken. Das Projekt ist auf seinen Kontext bezogen, aber es vermittelt auch die Botschaft, dass Lodz nicht nur aus Vergangenheit, sondern auch aus Zukunft besteht.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld