Das neue Polen

Die Gratwanderung

Seit der Krim-Annexion zieht es immer mehr Ukrainer nach Polen. Für die Regierung bedeutet das: Sie muss sich erstmals mit Einwanderungsfragen beschäftigen

Eine bunte Illustration mit einer männlichen Figur und drei weiblichen Figuren, die hinter der männlichen Figur gehen und stehen. Alle tragen eine Tasche oder Koffer.

Als Myroslava Keryk aus Schowkwa, einer ukrainischen Stadt an der Grenze zu Polen, Anfang der 2000er-Jahre nach Warschau kam, lebten weniger als 15.000 Ausländer in Polen. »Darunter waren Forscher, die an akademischen Austauschprogrammen teilnahmen, Haushälterinnen und Verkäuferinnen«, erinnert sich Keryk. Als sie dann Ende der 2000er-Jahre zusammen mit Gleichgesinnten die Stiftung »Unsere Wahl« gründete, schien dies ein Projekt für einige Warschauer Ukrainer zu sein. Inzwischen unterstützen die Berater von »Unsere Wahl« jedes Jahr mehrere Tausend Menschen in ganz Polen bei Fragen zu Einwanderung, Legalisierung des Aufenthalts und Beschäftigung von Ausländern.

Es sind Organisationen wie »Unsere Wahl«, die in den letzten Jahren eine Schlüsselrolle dabei gespielt haben, Ausländern zu helfen, in Polen sesshaft zu werden. Und in den vergangenen zehn Jahren gab es nicht weniger als zwei Millionen Neuankömmlinge.

Das war nicht immer so: Anfang der 1990er-Jahre führte Polen Reformen durch, die einen raschen Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft ermöglichten. Die Zahl der ausländischen Investitionen und die Gehälter der Polen stiegen, die Veränderungen führten jedoch auch zu einer Rekordarbeitslosigkeit. Noch in den frühen 2000er-Jahren hatte jeder fünfte Pole Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Als die Grenzen geöffnet wurden, setzte ein Exodus von Arbeitern ein: nach Deutschland, Großbritannien und in die skandinavischen Länder.

Nach dem EU-Beitritt Polens verstärkte sich die Abwanderung derart, dass die polnischen Landwirte im Sommer 2006 nicht mehr genügend Erntehelfer fanden. Deshalb unternahm die Regierung 2007 den ersten Schritt auf die Einwanderer zu: Bürger der Länder der Östlichen Partnerschaft und Russlands konnten mit einer Sonderregelung bis zu 180 Tage in Polen arbeiten. Obwohl anfangs nur einige Zehntausend diese in Anspruch nahmen, veränderte es das Denken der Polen über Migration: Nicht nur wir können irgendwohin gehen, sondern jemand kann auch zum Arbeiten zu uns kommen.

In den 2010er-Jahren verbesserte sich die wirtschaftliche Situation und Arbeiter aus der benachbarten Ukraine wurden in Baufirmen, Fabriken und im Dienstleistungssektor unter Vertrag genommen. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass 2014 beschleunigten diese Migration. Bevorzugte früher die Mehrheit der Ukrainer Russland als Ziel – eine vertraute Sprache, ein einfaches Beschäftigungssystem –, wurde diese Option aufgrund des Kriegs und des gefallenen Rubel-Wechselkurses nun weniger populär.

In fast jeder polnischen Schule lernen auch ukrainische Kinder

In Folge stieg die Zahl der Einwanderer kontinuierlich: Im Mai 2021 leben nun 270.000 Ukrainer dauerhaft in Polen. Wenn man jene hinzufügt, die eine Arbeitserlaubnis besitzen oder für die die oben genannte Sonderregelung gilt, kann man sogar von über 1,5 Millionen ukrainischen Arbeitnehmenden sprechen.

In fast jeder polnischen Schule lernen auch ukrainische Kinder; in Bussen und auf der Straße hört man ständig Ukrainisch und Russisch. Mehr als sechzig Prozent der großen und mittleren Unternehmen geben an, unter ihren Mitarbeitenden ukrainische Staatsbürger zu haben.

Obwohl die Mehrheit der Ausländer in der Woiwodschaft Masowien lebt, gibt es Städte und Regionen, für die die Offenheit gegenüber Migranten zum Markenzeichen geworden ist. Zu diesen gehört Breslau (Wrocław) im Südwesten Polens. Nach Schätzungen ist jeder zehnte Einwohner der Stadt, in der 700.000 Menschen leben, aus der Ukraine gekommen.

Vor zwei Jahren war Breslau die erste polnische Großstadt, die das Amt eines Bevollmächtigten für die Angelegenheiten ukrainischer Migranten einführte. »Bei uns lebten schon früher viele Expats aus der EU«, erzählt die Bürgerbeauftragte Olga Khrebor. »Ich denke, die neuen Bewohner von Breslau mögen diese Atmosphäre, in der sich Kulturen begegnen«, erklärt sie.

Die polnische Regierung verhält sich in Migrationsfragen ambivalent. Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verwendete im Wahlkampf 2015 eine brutale Rhetorik gegen Einwanderer. Und sie hat das Programm der Europäischen Union zur Umverteilung syrischer Flüchtlinge abgelehnt. Bemerkenswert ist, dass die damalige Premierministerin Beata Szydlo vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments 2016 die Weigerung, Syrer aufzunehmen, damit begründete, dass Polen bereits eine Rekordzahl von »ukrainischen Flüchtlingen« aufgenommen habe. Dass die Ukrainer allerdings auf Einladung der Arbeitgeber kamen, selbst Wohnungen mieteten sowie Steuern und Versicherungen bezahlten, unterschlug die Premierministerin. Auch dass es für sie weder Integrations- noch Sprachkurse gab.

Besser hat sich die Regierung auf die Einwanderer aus Belarus vorbereitet. Während 2019 nur 21.000 Belarussen in Polen lebten und arbeiteten, sind es heute mehr als 30.000. Weitere 80.000 reichten Anträge für Zeitarbeit ein. Den Anstoß dazu gaben die Repressionen des belarussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko gegen die Zivilgesellschaft. Anton*, der als Personalvermittler für ein großes IT-Unternehmen arbeitet, ist vor fünf Jahren nach Polen gezogen. Im vergangenen Jahr sah er, wie belarussische Spezialisten in mehreren Wellen ankamen: »Wir sprechen wirklich von Tausenden.« Bislang sei die Lage in Belarus noch nicht so beängstigend wie 2014 in der Ukraine. »Wenn sich die Situation jedoch verschlechtert, wird es mehr Migranten geben«, ist er überzeugt.

»In Belarus gibt es im Gegensatz zur Ukraine keine Tradition der Auswanderung von Arbeitskräften«, erklärt Marta Jaroszewicz von der Universität Warschau. Deshalb seien die von der polnischen Regierung vorgeschlagenen Instrumente so wichtig gewesen: Erstens erlaubte Polen allen Belarussen, die mit humanitären Visa ins Land kommen, zu arbeiten. Zweitens wurde ein spezielles Programm, »Poland. Business Harbor«, für die Standortverlagerung von IT-Unternehmen ins Leben gerufen. Auf diesen Wegen seien inzwischen bereits 8.000 Visa ausgestellt worden.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute kommen, um dauerhaft zu bleiben«, sagt Anton. »Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei den Belarussen das Verantwortungsbewusstsein für ihr Land verstärkt.« Viele derer, die nach Polen gezogen sind, würden später zurückkehren wollen.

Trotz der wachsenden Zahl sei es zu früh, räumt auch die Soziologin Jaroszewicz ein, um über eine groß angelegte Migration von Belarus nach Polen zu sprechen: »Es gibt noch keine Massenentlassungen bei belarussischen Unternehmen und Lukaschenko hat das Grenzübergangsverfahren komplizierter gemacht.« Wenn in Polen über Migranten-Communities gesprochen wird, seien daher hauptsächlich Ukrainer gemeint. Von einem Einwanderungsland à la USA will Jaroszewicz aber nicht sprechen und wählt ein anderes Bild, um die Beziehung der Migranten zur Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben: »Es gibt keinen Schmelztiegel, es gibt ein Gericht aus zwei Komponenten.«

Inzwischen betrifft die Anwerbung von Migranten nicht mehr nur den Arbeitsmarkt. Demografen schätzen, dass die polnische Bevölkerung bis 2050 von 38 auf bis zu 33 Millionen schrumpfen könnte, wenn es bei der derzeitigen Geburtenrate bleibt. Daher ist es besonders wichtig, junge Menschen ins Land zu locken, die bleiben und nicht weiter nach Westen gehen.

2019 kandidierte zum ersten Mal eine ukrainische Migrantin für das Parlament

Olga Dadak und Dziyana Kovgan sind 18-jährige Journalistik-Studentinnen an der Vistula-Universität in Warschau. Olga Dadak kam im Anschluss an eine Bildungsreise in Polen aus Dnipro in der Südukraine nach Warschau, um dort zu studieren. Dziyana Kovgan aus Minsk wurde von Erzählungen von Freunden über den hohen Lebensstandard und die Möglichkeiten für junge Menschen in Polen angelockt.

»Ich spreche die Sprache und bin selbstsicher«, erklärt Dadak. Sie jobbt als Verkäuferin, kurz vor dem Abschluss will sie sich aber nach einer Arbeit als Journalistin umsehen. »Die Polen behandeln mich im Allgemeinen gut.« Dennoch möchte sie irgendwann gerne nach England ziehen: »Ich denke, das ist ein Land für mein Temperament.«

Auch Dziyana Kavgan ist sich nicht sicher, ob sie in Polen bleiben wird: »Ich würde gerne viele Länder bereisen und mir dann aussuchen, wo ich leben und arbeiten will.« Persönlich sei sie in Polen noch nie auf Hass gestoßen. »Aber mein Freund wurde auf der Straße geschlagen, weil er russisch sprach«, erzählt sie.

Im Jahr 2019 kandidierte Myroslava Keryk vom Verein »Unsere Wahl« als erste ukrainische Migrantin für das polnische Parlament. Und obwohl sie keinen Sitz gewann, bewertet sie diese Erfahrung positiv. »Bei Migration geht es nicht nur um eine neue Kultur, sondern auch um ein Wissen darüber, wie man schwach und weniger geschützt lebt, um die dunklen Seiten des Arbeitsmarkts und der Bürokratie«, sagt sie. Es sei nicht nur im Interesse der Neuankommenden, sondern auch der Polinnen und Polen, dass Menschen mit solchen Erfahrungen an die Macht kommen.

Übersetzt von Carmen Eller

*The personal mediator quoted in the text did not wish to be mentioned by his full name.