Soziale Medien | Südafrika

Canceln für Gerechtigkeit

In der südafrikanischen Twitter-Community wird jeder Fehltritt heiß diskutiert. Ist das noch gemeinschaftlicher Aktivismus – oder schon Mobbing?

Ein schwarz weißes Fotoporträt von Binwe Adebayo. Sie hat dunkle Haare. Sie stützt ihren geneigten Kopf mit der linken Hand.

Die Autorin Binwe Adebayo

Im Oktober 2020 geriet der Schwarze südafrikanische Fernsehmoderator Katlego Maboe in Schwierigkeiten, nachdem seine Beziehungsprobleme auf Twitter verhandelt worden waren. Er sah sich mit dem Vorwurf der häuslichen Gewalt und Untreue konfrontiert. Gewalt gegen Frauen ist ein brisantes Thema in Südafrika.

Entsprechend prompt und zwiespältig fielen die Reaktionen in der Schwarzen Twitter-Community aus. Einige verlangten, Maboe solle „gecancelt“ werden, seine Werbepartner wurden vehement aufgefordert, ihm zu kündigen. Andere vertraten die Ansicht, man dürfe Twitter nicht dazu benutzen, die Karriere eines Menschen auf Grundlage bloßer Gerüchte zu ruinieren.

Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie Cancel Culture in Südafrika funktioniert. Ungeachtet erheblicher Unterschiede unter Twitter-Nutzern in Bezug auf ihre Schichten- und Genderzugehörigkeit gibt es einen gemeinsamen Nenner: Alle fühlen sich verpflichtet, ernste Themen in hitzigen Debatten zu diskutieren, und oft hat dies reale Auswirkungen.

Was die einen als Mobbing bezeichnen, ist für andere Aktivismus. Während manche der Ansicht sind, die Plattform sei ein guter Ort, um Solidarität kundzutun, bezeichnen andere die Twitter-Community als boshaft. Diese Dynamiken haben in Südafrika einen besonderen historischen und kulturellen Hintergrund.

Das Erbe der Apartheid hat dazu geführt, dass Diskussionen in Südafrika in einem – gelinde gesagt – angespannten Kontext stattfinden. Es gibt ein systemisches Muster der Spaltung, basierend auf ethnischer Zugehörigkeit und der grundlegenden Auffassung, dass manche Südafrikaner mehr wert sind als andere.

„Canceln kann ein Mittel sein, um Fehlverhalten von Mitgliedern der Gemeinschaft zu ahnden.“

Gleichzeitig wird der südafrikanische Begriff „Ubuntu“ als Aufruf zu Einheit, Gemeinschaft und Vergebung beschworen. „Ubuntu“ basiert auf der Idee der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Grob übersetzt bedeutet es: „Ich bin, weil wir sind“. Dieses Konzept kann man überall beobachten: Twitter wird etwa dazu genutzt, Menschen in Not zu helfen, vermisste Kinder zu finden und Spenden für Katastrophenhilfe oder Operationen zu sammeln.

Doch wer glaubt, dass der Umstand einer geteilten Zugehörigkeit notwendigerweise bedeute, alle Sünden würden vergeben, hat das Konzept des Ubuntu nicht verstanden. Die Idee des „Cancelns“ gehört untrennbar zu diesem Prinzip, indem es strikte Grenzen aufzeigt für das, was in der Gemeinschaft als akzeptabel gilt.

Canceln kann ein Mittel sein, um Fehlverhalten von Mitgliedern der Gemeinschaft zu ahnden. Wenn etwa Menschen Opfer von Betrügern geworden sind, werden in den sozialen Medien Unterstützungsaufrufe gepostet. Oder es wird diskutiert, wie Betrüger öffentlich anzuprangern seien.

Es gibt allerdings auch Anzeichen dafür, dass Canceln eine begrenzte Wirksamkeit hat. In einer Untersuchung über virtuelle Gemeinschaften stellt der Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns fest, dass sich gecancelte Personen oft in Filterblasen zurückziehen, in denen sie toleriert oder sogar gefeiert werden.

Und manche Personen bleiben auch weiterhin gewalttätig, weil sie zwar als Täter angeprangert werden, aber keine Chance haben, sich zu rehabilitieren. Südafrika kämpft in vielerlei Hinsicht noch immer mit seiner Vergangenheit, in der extreme Polarisierung und Ausgrenzung zum Alltag gehörten.

Vor diesem Hintergrund ist ein chaotischer und teilweise auch unschöner virtueller Raum entstanden. Online-Communitys können nur bedingt etwas gegen ungerechte Machtstrukturen in der Offline-Welt ausrichten. Aber in ihnen können wir über uns selbst und die Gesellschaft nachdenken – und über Möglichkeiten des Empowerments, die wir Offline nicht immer haben.