Popkultur | USA

„Alle zehn Tage ein neuer Knast“

Songs, die Mauern überwinden: Der Dichter Fury Young und die Musikerin BL Shirelle betreiben ein Plattenlabel für Inhaftierte

Eine Frau mit roter Cap und Sonnenbrille zeigt auf die Kamera und singt dabei in ein Mikrofon. Im Hintergrund sieht man eine Person an der Wand lehnen, die eine orangene Hose trägt, die typischerweise als Gefängniskluft getragen wird.

BL Shirelle bei einem Auftritt. Die Musikerin und heutige Co-Direktorin von DJC Records saß selbst zehn Jahre im Gefängnis

Herr Young, „Die Jim Crow Records“ ist das erste US-amerikanische Plattenlabel für inhaftierte Musikerinnen und Musiker. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit Häftlingen zusammenzuarbeiten?

Fury Young: Das hat sich einfach nach und nach entwickelt. Im Jahr 2013 habe ich angefangen, Briefe an Musiker im Gefängnis zu schreiben. Ich wollte mit ihnen ein Konzeptalbum über ihre Erfahrungen machen, à la Pink Floyds „The Wall“. Dabei habe ich dann so viele fantastische Menschen und Geschichten gehört, dass es den Rahmen eines einzigen Albums gesprengt hätte.

BL Shirelle: Am Anfang ging es uns darum, die Geschichte der Masseninhaftierung zu erzählen – in einem Album. Als immer mehr Menschen dazukamen, haben wir uns zuerst in eine Non-Profit-Organisation verwandelt und dann in ein Plattenlabel. Mittlerweile ist DJC Records eine Plattform für Menschen, die ihre eigene Geschichte schreiben.

Frau Shirelle, Sie sind Co-Direktorin von DJC Records und auch selbst Teil des Labels. Wann sind Sie zu dem Projekt dazugestoßen?

BL: Das war im Jahr 2015. Zu der Zeit war ich selbst zum zweiten Mal inhaftiert und Fury kontaktierte mich mit seiner Idee. Es ging mir damals nicht besonders gut und ich hatte eigentlich keine Lust auf Musik. Aber Fury sagte: „Schreib einen Song über die Ängste vor einer erneuten Haftzeit“ – und nach fünf Minuten stand der Text. Als ich dann aus dem Gefängnis freikam, wurde ich für meinen ersten Auftritt direkt bezahlt. Ich dachte nur: Oh wow, mit Musik kann man tatsächlich Geld verdienen?! (lacht)

Wer kommt denn als Künstlerin oder Künstler bei DJC Records infrage?

BL: Wir sind keine dieser Organisationen, die Häftlinge mit Musik therapieren wollen. Wir arbeiten nur mit talentierten Musikerinnen und Musikern zusammen. Und wir sind ein genreagnostisches Label, binden uns also nicht an eine bestimmte Musikrichtung. Was auch immer du machst: wenn du es gut machst, finden wir einen Platz für dich.

F.Y.: Wir diskriminieren außerdem auch niemanden wegen der Härte seiner Straftaten. Auf unserem ersten Album „Die Jim Crow EP“ ist zum Beispiel auch Michael Tenneson dabei – er sitzt lebenslänglich, verurteilt für fünf Morde. Vor allem wollen wir mit DJC Records Stereotype und Rassismen über Gefängnisinsassen in Amerika abbauen, indem wir ihre Stimmen und ihre Musik hörbar machen.

Wie äußert sich die Diskriminierung in US-Gefängnissen?

F.Y.: Das Gefängnis ist ein rassistisch kodiertes Kastensystem. Man kann bis zur Sklaverei zurückgehen, um dessen Ursprünge zu ergründen. Fakt ist, dass Schwarze in den USA bis heute unverhältnismäßig oft von Gefängnisstrafen betroffen sind. Während der Bürgerrechtsbewegung wurden die Gefängnisse zwar etwas zivilisierter. Aber dann begann der Krieg gegen Drogen und das Zeitalter der Masseninhaftierung, das vor allem Schwarze und People of Color traf. In den Jahren 1990 bis 2005 wurde alle zehn Tage ein neuer Knast gebaut. Das Buch „The New Jim Crow“ von Michelle Alexander gibt einen eindrucksvollen Überblick über diese Entwicklung und hat mich für unser Label sehr inspiriert.

Spielt der Name „Jim Crow“ auf diesen Hintergrund an?

F.Y.: Ja, Jim Crow ist eine Figur aus einem rassistischen Lied der 1820er-Jahre – eine sehr überzeichnete, stereotype Vorstellung von einem Schwarzen Mann, wie sie damals viele Weiße hatten. Bis heute wird der Name verwendet, um Gesetze zu beschreiben, die Schwarze und andere Gruppen diskriminieren.

Warum ist ausgerechnet Musik eine gute Möglichkeit, um darauf aufmerksam zu machen?

BL: Mit Musik und Sport kann man auf Augenhöhe miteinander in Kontakt kommen. Wenn jemand meine Musik mag, dann interessiert es ihn nicht mehr, wo ich herkomme oder was ich getan habe. Mit Musik kann man andere dazu bringen, unsere Menschlichkeit anzuerkennen. Uns wahrzunehmen und zu merken: Auch Gefängnisinsassen sind Menschen – und manchmal noch dazu großartige Musikerinnen und Musiker.

Das Interview führte Gundula Haage