Kommentar | Literatur

Im Strudel des Alltags entsteht keine Literatur

In einem krisenbehafteten Alltag fällt es uns schwer, uns Zeit für Kunst zu nehmen. Doch Literatur braucht Zeit, um sich zu formen und Stille, um zu entstehen

„Words, words, words“, das sagte schon Hamlet. Aber für uns, die wir schreiben, sind Wörter wie feine Figuren, wie fragile Personen, mit denen wir vorsichtig umgehen sollten. Und weil wir sie jeden Tag im alltäglichen Leben gebrauchen, ohne uns weitere Gedanken darüber zu machen, ist es stets eine Herausforderung, Sprache in Literatur zu verwandeln.

Wir sind von Wörtern aus den Nachrichten umgeben – von Wörtern wie „Krieg“, „Klimakrise“, „Terrorismus“, „Pandemie“. Wörtern, die Angst machen, die Tragödien andeuten, Wörtern, die die Reflexion erstarren lassen. Kunstfreiheit kann aber nur dann stattfinden, wenn wir von der alltäglichen Sprache, von den üblichen Gebrauchswörtern Abstand nehmen.

Wenn wir sie unmittelbar niederschreiben – zusammen mit den Gedanken, die sie tragen, die sie übertragen –, also eine Second-hand-Sprache benutzen, dann schreiben wir nämlich nicht nur banal, dann denken wir auch banal. Dafür braucht es keine Literatur. Im Gefängnis der Mode, im Strudel des Alltags gibt es keinen Raum für die Literatur. Literatur bedeutet Einsamkeit, bedeutet Rückzug. Frei bin ich nur, wenn ich den lauten Widerhall der Ereignisse nicht mehr höre.

Natürlich leben wir alle in derselben Welt und natürlich wirken die Ereignisse der alltäglichen Welt auf das Schaffen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, schrieb Virginia Woolf in ihrem Tagebuch: „Jetzt sind wir zu Journalisten geworden.“ Damit meinte sie, man könne jetzt nur noch Artikel verfassen, kurz und schnell denken, aber keine Romane mehr schreiben, kein Werk, das eine Kontinuität in Raum und Zeit ermöglicht.

Wenn solche Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg oder der Krieg in der Ukraine oder die Erderwärmung eintreten, dann ist es einerseits unmöglich sofort über sie zu schreiben und andererseits unmöglich nicht über sie zu schreiben. Ich denke: Natürlich sollten wir zu wichtigen Ereignissen Stellung nehmen – als Bürger, als Bürgerinnen. Aber müssen wir all unsere Gefühle und Gedanken spontan künstlerisch äußern? 

„Im Gefängnis der Mode, im Strudel des Alltags gibt es keinen Raum für Literatur. Literatur bedeutet Einsamkeit und Rückzug“

Kunstfreiheit ist nicht einfach Meinungsfreiheit. Literatur gehört einer anderen Dimension an, in der die Zeit langsamer fließt – und über Umwege. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen nicht immer auf einer geraden Linie und nicht immer in der gleichen Reihenfolge nebeneinander wie in unserem Leben. Die Vergangenheit kann hier nach der Zukunft kommen, so wie in „Alice im Spiegelland“, wo Alice sagt: „Ich kann mich nicht an Dinge erinnern, bevor sie geschehen“ – und die Königin antwortet: „Das ist ein armseliges Gedächtnis, das nur rückwärts funktioniert.“ 

Kunstfreiheit bedeutet, diese Dimension zu finden, zu erfinden. Sich beim Schreiben frei zu bewegen bedeutet, neue Fenster zu öffnen, unerwartete Möglichkeiten zu schaffen – in einem Wort: die Welt zu erweitern. Dafür müssen wir vom Chor der Kommentare, vom Ready-made-Denken Abstand nehmen.

Es gibt Ready-made-Bücher, die schnell geschrieben werden, wo die Sätze sich fast automatisch mit den Wörtern der Zeitungen aufschreiben lassen. So wie bei den Korrekturen und Vorschlägen unserer Smartphones, wo alles schon vorgegeben ist, wo der Zeitgeist genau wiedergegeben wird. Freiheit ist hingegen eine leere Stelle, die jede, die jeder für sich selbst ausfüllen kann.

Den Weg dorthin müssen wir jedoch allein finden und das heißt suchen, und suchen braucht wiederum Zeit. Bis wir am Ziel sind, müssen wir deshalb den Mut haben, einfach zu schweigen. Wir brauchen Zeit, wir brauchen Stille, um andere Stimmen hören zu können, Stimmen, die auch in den Büchern sprechen.

Wir sind nicht die Ersten, die solche Ereignisse erlebt haben, die durch solche Prüfungen hindurchgegangen sind. Was haben sie damals geschrieben, was haben sie gedacht? Paradoxerweise sind es die Stimmen der Vergangenheit, die uns die Genehmigung geben, den eigenen Weg weiterzugehen, weil sie bereits den eigenen Weg gegangen sind und so ihre Werke erschaffen haben. Eine Genehmigung als Reisepass zur Freiheit. Dann können wir frei schreiben – fernab vom Mainstream – und diese Freiheit hoffentlich weitergeben, damit es weniger Mainstream gibt.