Soziale Medien

Generation Zölibat

Auf der Social-Media-Plattform TikTok ist Enthaltsamkeit unter #celibacy zu einem globalen Trend geworden. Warum verzichten immer mehr junge Menschen freiwillig
auf Sex?

Zwei junge Frauen und ein junger Mann, die in ihre Kamera schauen bzw. sprechen.

TikTok screenshots of @victoriadevall, @ines_nab and @noahpjem8 speaking out about #Celibacy

Egal, wo man lebt, welchen Beruf man ausübt und wie alt man ist, man kann ihr nicht entkommen: Die Rezession ist zurück, und zwar mit voller Wucht.

Beherrscht vom Krieg in der Ukraine und der Beschleunigung des Klimawandels hat die Postcovid-Ära nichts als zusätzliche Verpflichtungen, Einschränkungen und Ängste mit sich gebracht.

Und während sich die Nachrichten auf die Öl- und Gaspreise konzentrieren, macht die Generation Z einen sehr realen existenziellen kulturellen Wandel durch, denn die aktuelle Krise wirkt sich selbst in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein aus.

Hierbei kristallisiert sich der Verzicht auf Sex als bedeutsamer kultureller Trend heraus – zumindest auf dem Videoportal TikTok. Schluss mit dem Überfluss, die Zeit der Enthaltsamkeit ist gekommen!

„Die Generation Z wird oft als die ängstlichste Generation aller Zeiten bezeichnet. Aber was ängstigt sie so sehr?“

Die meisten der jungen Menschen, die zwischen Ende der 1990er-Jahre und 2010 geboren wurden und damit zur Generation Z gehören, haben bereits zwei Wirtschaftskrisen, eine Pandemie und mehrere Atomkriegsdrohungen hinter sich gebracht, bevor sie überhaupt ihren Schulabschluss gemacht haben. Und wenn wir unseren Politikern und Politikerinnen glauben dürfen, steht das Schlimmste noch bevor.

Die Generation Z wird oft als die ängstlichste Generation aller Zeiten bezeichnet. Aber was ängstigt sie so sehr? Zunächst werden sie rund um die Uhr mit schlechten Nachrichten bombardiert. Die Welt um sie herum bricht zusammen, und sie sind sich dessen sehr bewusst.

Die derzeitige Rezession beeinträchtigt die Zugehörigen der Generation Z mehr als jede andere Altersgruppe; sie wohnen noch länger als die Millennials bei ihren Eltern und zögern den Beginn ihrer beruflichen Laufbahn und damit ihre finanzielle Unabhängigkeit hinaus.

Und wohl jeder würde es sich zweimal überlegen, jemanden nach einer Party mit nach Hause zu nehmen, wo man dann beim Frühstück auf die Eltern trifft.

„Dieser Lebensstil, den man sonst mit Incels und religiösen Fanatikern in Verbindung bringt, scheint auf TikTok an Popularität gewonnen zu haben“

Laut einer im Jahr 2021 veröffentlichten Studie trinken junge alleinstehende Erwachsene weniger Alkohol, bleiben mehr zu Hause und vernetzen sich mit Freunden über soziale Medien und Spieleplattformen.

Dazu kommt noch die Angst vor Geschlechtskrankheiten, die durch Covid und Affenpocken wiederbelebt wurde, und schon hat man ein Umfeld, das sexuellen Abenteuern nicht gerade förderlich ist. Die neue sexuelle Enthaltsamkeit ist natürlich nicht allein ein Produkt der Krise.

Dieser Lebensstil, den man normalerweise mit Incels und religiösen Fanatikern in Verbindung bringen würde, scheint auf TikTok an Popularität gewonnen zu haben – einer Plattform mit einer Milliarde Nutzern, auf der Jugendliche sich nicht nur untereinander austauschen, sondern bei Gleichaltrigen oder selbsternannten Pädagogen auch Rat, Hilfe und Informationen suchen.

„Was ist sexuelle Freiheit wert, wenn dabei ein patriarchalischer Status quo aufrechterhalten bleibt?“

Sexuelle Abstinenz ist derzeit eines der Trendthemen, vor allem unter jungen Frauen, die Männer daten. Das Thema scheint im Verhältnis zu der in den letzten Jahrzehnten in westlichen Gesellschaften vorherrschenden Aufreißkultur an Bedeutung gewonnen zu haben.

An diesem Punkt könnte man verwundert innehalten: „Frühere Generationen haben für sexuelle Freiheit gekämpft, sollten diese Kids nicht dankbarer sein?“, worauf die Generation Z erwidern könnte: „Was ist sexuelle Freiheit wert, wenn dabei ein patriarchalischer Status quo aufrechterhalten bleibt?“

Oder, wie die TikTokerin und Podcasterin Victoria de Vall es ausdrückt: „Können wir endlich aufhören, so zu tun, als ob die Aufreißkultur uns stärker macht?“

In dem Video, das über 230.000 Mal aufgerufen wurde, wird die studierte Psychologin noch deutlicher: „Selbst wenn ihr denkt, dass ihr euch gegenseitig benutzt – glaubt ihr, dass dieser Scheiß euch stärker macht oder gesund ist? [...] Lasst uns aufhören, Menschen zu benutzen, das ist nur eine Reaktion auf eure eigene Unterdrückung [...].

„Der Verzicht auf Sex oder Dates ist nicht mehr eine rein persönliche Entscheidung, sondern aktivistische Praxis“ 

Es ist nicht gesund, es ist nicht befreiend, es ist nicht locker.“ Wenn wir genauer darüber nachdenken, was bringt uns eigentlich der Gelegenheitssex?

Sicher, wir hoffen immer, dass es Spaß macht und schön ist, aber seien wir mal ehrlich – meistens ist es eine Enttäuschung. Ganz zu schweigen davon, dass Sex für viele Menschen eine emotionale oder spirituelle Dimension hat, sodass Gelegenheitssex für sie sogar selbstzerstörerisch werden kann.

„Männer sind Schweine“ ist kein neues Narrativ, aber in der heutigen Zeit, in der „toxische Männlichkeit“ ein unter Teenagern weithin bekanntes Konzept ist, hat es eine andere Funktion: Es geht nicht mehr um Bashing und Spaltung, sondern um Dekonstruktion und Erneuerung. Der Verzicht auf Sex oder Dates ist nicht mehr eine rein persönliche Entscheidung, sondern aktivistische Praxis.

Als der Oberste Gerichtshof der USA im vergangenen Juni das Urteil im Fall Roe gegen Wade aufhob, brachten junge Frauen auf TikTok ihre Verzweiflung zum Ausdruck.

„Der Feminismus der Generation Z sieht in der Enthaltsamkeit eine Möglichkeit für Frauen, ihren Körper zurückzuerobern“

Einige von ihnen schworen, aus Protest gegen das Abtreibungsverbot auf Sex zu verzichten. So schreibt die 22-jährige Nutzerin iseaabel: „Ich bin jetzt im Zölibat. Glaubt ihr, ich riskiere es, von einem Mann schwanger zu werden [...], der mich noch nicht einmal zum Höhepunkt bringen kann?“

Der Feminismus der Generation Z sieht in der Enthaltsamkeit eine Möglichkeit für Frauen, ihren Körper zurückzuerobern – in einer Gesellschaft, die sexistische Machtdynamiken immer weiter verstärkt und den Männern immer noch viel zu viel Spielraum lässt. Es ist der Kampf gegen das Patriarchat, und zwar Nacht für Nacht.

Die Tiktok-Nutzerin allroundgreatgal, die sich auch Lanadelredneck nennt, fasst die Bewegung in diesem improvisierten Manifest zusammen: „Alle Mädchen gehen in den Zölibatsstreik und hungern die Männer sexuell aus, bis sie lernen, sich richtig zu verhalten.“

Ihre Botschaft wurde bereits über 200.000 Mal aufgerufen und sie hat viele weitere Videos veröffentlicht, in denen sie Geschlechterrollen und patriarchalische Werte infrage stellt und Frauen dazu aufruft, ihren wahren Wert zu entdecken, ohne die Last, Männern zu gefallen, ihnen Bestätigung zu geben und sie zu heilen.

„Sex wird nicht als Sünde angesehen, zur Selbstbefriedigung wird sogar ermuntert“

Die sexuelle Enthaltsamkeit wird von konservativen Gemeinschaften seit jeher befürwortet. Was also ist anders an diesem Trend? Ganz einfach: Der Zölibat der TikTok-Ära ermutigt Frauen, sich aufzusparen für ... nun ja, für sich selbst. Nicht für ihren zukünftigen Ehemann, nicht aus Respekt vor ihrem Glauben oder aus Angst, ihre Eltern zu enttäuschen.

Sex wird nicht als Sünde angesehen, zur Selbstbefriedigung wird sogar ermuntert: Der Verzicht auf Geschlechtsverkehr wird als eine Möglichkeit zur Selbstfindung propagiert. „Ich habe das Gefühl, dass ich das wirklich gebraucht habe, denn ich war zu lange in einer Beziehung, als ich noch sehr jung war, und ich wusste gar nicht, wer ich eigentlich bin“, sagt Lee, eine Kosmetikerin mit zwei Millionen Followern, die kein Blatt vor den Mund nimmt.

Seit mehr als anderthalb Jahren lebt sie enthaltsam, und das führte dazu, dass sie sich heute fragt, ob sie ihren Ex-Partner wirklich geliebt hat: „Ich glaube, ich mochte nur die Aufmerksamkeit.“ Indem sie sich von äußerer Bestätigung befreien, können die Anhängerinnen des Zölibats sich ganz darauf konzentrieren, herauszufinden, wer sie wirklich sind.

„Außerdem ist meine natürliche Flora da unten toll im Gleichgewicht“, fügt Lee hinzu, während sie ihr Make-up vervollständigt. „No cap“, übersetzt so etwas wie „das ist die ungeschönte Wahrheit“, wie die Gen Z zu sagen pflegt.

„In der Kennenlernphase abstinent zu sein, verschafft Klarheit über die Art von emotionalen Beziehungen, die man aufbauen will“

Aber Selbsterkenntnis und Selbstvertrauen sind nicht die einzigen Vorteile des Zölibats: Viele TikTok-Nutzerinnen erwähnen, dass ihre innere Reise sie dazu gebracht hat, höhere Anforderungen an die Männer zu stellen, mit denen sie sich künftig zu Dates treffen wollen, in der Hoffnung, dass das zu gesünderen, nachhaltigeren Beziehungen führt.

Die TikTokerin und Fitness-Influencerin Jordie Danielle hat auf Wunsch einer ihrer 137.000 Followerinnen ein Video-Update ihres Abstinenz-Experiments veröffentlicht, in dem sie erwähnt, dass „das Beste daran ist [...], dass es jeden Mann aussiebt, der nur auf Sex aus ist“. In der Kennenlernphase abstinent zu sein, verschafft Klarheit über die Art von emotionalen Beziehungen, die man aufbauen will.

Und wie reagieren heterosexuelle Männer auf all das? In einer #storytime erzählt uns und etwa einer Million andere Menschen Gabrielle Victor, eine junge, alleinerziehende Mutter und Influencerin, wie der Mann, mit dem sie gerade ein erstes Date hatte, ihr mitteilte, dass er auch zölibatär sei.

„Er schickte mir eine Sprachnachricht [...] und sagt: Du solltest dir mehr Gedanken über die Snacks machen, die wir während des Films essen, als über diesen ganzen Unsinn, denn ich mache mir auch keinen Kopf deswegen – ich bin einfach ganz entspannt und freue mich auf den Abend!“

Einige Männer, die sich dem Trend angeschlossen haben, scheinen dies jedoch aus frauenfeindlichen Motiven heraus zu tun, das geht jedenfalls aus ihren Äußerungen auf TikTok hervor.

„Wenn überhaupt, sollten Menschen, die Enthaltsamkeit praktizieren, dafür gelobt werden, dass sie ein bewussteres Liebesleben führen“

Ebenso finden sich auf der Plattform viele Videos von Frauen, die versucht haben, mit ihren Partnern offen über ihre Abstinenz zu sprechen, und nicht die Reaktion bekamen, die sie sich gewünscht hatten: Auf jede Frau, die uns ihren „tollen“ Freund vorführt, der sie, „wie eine Prinzessin behandelt“, obwohl „sie ihn nicht ranlässt“, kommt eine, die uns erzählt, wie sie eiskalt fallen gelassen wurde, nachdem sie offen über ihre Abstinenz gesprochen hatte.

Nachdem uns jahrzehntelang suggeriert wurde, dass wir so viel Sex wie möglich mit so vielen Menschen wie möglich haben sollten, mag es wie eine seltsame Kehrtwende seitens der Generation Z erscheinen, der Maxime „weniger ist mehr“ zu folgen. Aber es ist nur folgerichtig.

Generationen sind mehr als nur ein „Marketingkonzept“: Sie sind auch kulturell relevant, und es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Mentalitäten und Verhaltensweisen verändern, wenn eine Generation erwachsen wird.

Wenn überhaupt, sollten Menschen, die Enthaltsamkeit praktizieren, dafür gelobt werden, dass sie ein bewussteres Liebesleben führen.

Die Generation Z ist nicht die hirnlose, pornosüchtige, sozial unbeholfene Teenagergeneration, die von den Medien oft als „sexlose Generation“ dargestellt wird: Sie weist das Diktat der Quantität einfach höflich zurück und entscheidet sich bewusst für Qualität.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter