Polarisierung | Schweden

Der blinde Fleck

Schweden gilt als weltoffen und tolerant. Doch nun geht ein Rechtsruck durch das Land – und das farbenfrohe Image bröckelt. Wie konnte das passieren?

Männer in Anzügen, dazwischen ein paar Frauen, alle unterhalten sich, Partystimmung. Im Hintergrund ein Bildschirm, auf dem ein Moderator Wahlergebnisse präsentiert.

Eine Wahlparty der Schwedendemokraten in Nacka (bei Stockholm) zu den schwedischen Parlamentswahlen am 11. September 2022

Dank ihrer vielen Mandate im schwedischen Reichstag gehören die ultrarechten Schwedendemokraten mittlerweile zu den großen Akteuren in der schwedischen Politik.

Seit den Parlamentswahlen 2022 sind sie die zweitstärkste Partei Schwedens und ihre Forderungen nach Besucherzonen, Bettelverbot und Ausweisung nicht schwedischer Straftäter werden mit großer Sicherheit noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden – und groß wird wohl auch ihr Einfluss auf das kulturelle Leben sein.

So trug die Haltung der Partei, nicht nur Medien, sondern auch Kulturschaffende und staatliche Fördereinrichtungen seien links, elitär und „antischwedisch“, bereits entscheidend dazu bei, dass sich in Schweden zuletzt eine Horde wütender Männer dazu aufschwang, Personen vermeintlich linker Gesinnung zu verfolgen, zu erschrecken und zu bedrohen.

„Bereits als die Schwedendemokraten 1989 gegründet wurden, waren sie eine neonazistische Partei“

All das kennen wir zwar aus den USA und von Donald Trump, deckungsgleich ist die Situation allerdings nicht. Denn die Schwedendemokraten arbeiten, anders als ideologielose Kapitalisten, nicht nur zum eigenen Vorteil und sie sind auch keine rein populistische Partei, die einfach nur etwas Chaos im politischen Establishment stiften will.

Im Gegenteil: Bereits als die Schwedendemokraten 1989 gegründet wurden, waren sie eine neonazistische Partei mit Mitgliedern, die sich auf privaten Festen den Hitlergruß zuwarfen und Parolen wie „Schweden soll schwedisch bleiben“ schmetterten. Zwar blieb die Partei in der Folge zunächst eine politische Randnotiz.

Doch seit der Wahl 2010, als sie in den Reichstag einzogen, erstarken die Schwedendemokraten mit jedem Jahr. Die bürgerlich-konservativen „Moderaten“, die seit den 1970er-Jahren die erste Anlaufstelle für rechte Wählerinnen und Wähler waren, haben sie so bereits abgehängt.

 „Die schwedische Kultur leidet an einer massiven Dissoziation: Handlungen und Überzeugungen klaffen krankhaft auseinander“

Doch wie konnte es überhaupt passieren, dass in Schweden heute jeder fünfte Wahlberechtigte für eine Partei stimmt, die sich einer rassistischen Weltanschauung verschrieben hat und die weiße Überlegenheit predigt? Wäre das in einem Land, das international immer wieder als Vorkämpfer für Menschenrechte auftritt, nicht vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen?

Eine Ursache für diese Entwicklung ist, dass die schwedische Kultur an einer massiven Dissoziation leidet: Handlungen und Überzeugungen klaffen hier seit geraumer Zeit beinahe krankhaft auseinander.

Der schwedische Wohlfahrtsstaat wurde in den 1930er-Jahren begründet und fand seinen Höhepunkt in und kurz nach der Amtszeit des Sozialdemokraten Tage Erlander, der seinen 23-jährigen Dienst als Ministerpräsident 1969 quittierte. Schon zuvor hatten sich in Schweden mit dem langsamen Anstieg des Wohlstands jedoch auch ganz andere Strömungen ausgebreitet.

So wurde an der ältesten und renommiertesten Universität des Landes, der Universität von Uppsala, bereits 1922 das Institut für Rassenbiologie gegründet. Ziel des Instituts, für das es damals auch großen Zuspruch von vielen Intellektuellen des Landes gab, war es, eine wissenschaftliche Begründung für rassenhygienische Maßnahmen auszuarbeiten.

„Gleichzeitig entwickelte sich der Gedanke des Wohlfahrtsstaats, der für alle da ist, in Schweden stetig weiter“

Als der schwedische Reichstag 1934 einem Sterilisierungsgesetz zustimmte, hatte das Institut also schon jahrelang ganze Arbeit geleistet. Aufgrund des Gesetzes wurden Tausende Menschen sterilisiert, weil sie als „psychisch krank“, „promiskuitiv“ oder „asozial“ galten oder einfach weil sie – auch, wenn man das damals nicht so ausdrückte – keine „richtigen Schweden“ waren.

Zu der letzten Gruppe zählten zum Beispiel auch die Volksgruppen der Roma und der Samen. Andere europäische Länder verabschiedete ähnliche Gesetze. In Schweden allerdings kam das Sterilisierungsgesetz besonders früh auf die politische Agenda und wurde so formuliert, als handelte es sich um freiwillige Sterilisierungen. Erst später ergaben Untersuchungen, dass viele der Eingriffe in der Praxis unter Zwang stattfanden.

Gleichzeitig entwickelte sich der Gedanke des Wohlfahrtsstaats, der für alle da ist, in Schweden stetig weiter. Mit der Zeit entstand so die Idee des sogenannten Volksheims, also der Gedanke, dass die Gesellschaft wie ein Heim organisiert werden sollte, in dem alle Bürger einen Platz haben. Eine Reihe Reformen, die sich an die Schwächsten der Gesellschaft richteten, halfen in der Folge dabei, einen Großteil der Bevölkerung aus der Armut zu befreien.

Finanziert werden konnte all das, weil Schweden im Zweiten Weltkrieg glimpflich davongekommen war und über eine prall gefüllte Staatskasse verfügte. Das Land war reich. Den Menschen ging es gut. 1969, als Tage Erlander als Ministerpräsident zurücktrat, konnte sein Nachfolger Olof Palme deshalb auch erstmals den Blick in die Welt richten.

„Im Essay ,A Letter from Sweden‘ (1969), räsoniert Sontag ihre Eindrücke der schwedischen Kultur und des Gesellschaftslebens“

Er wurde für seine Außenpolitik bekannt: als Gegner des Vietnamkrieges, Kritiker der Militärdiktaturen in Spanien, Griechenland und Chile, erstes westliches Staatsoberhaupt, das Kuba nach der Revolution besuchte, und Unterstützer der antikolonialen Bewegungen gegen die Apartheid in Südafrika.

Der Wohlfahrtsstaat florierte und das viele Geld gab der schwedischen Regierung nicht nur den Raum, sich auf der internationalen Bühne als Vermittler und als Verfechter von Moral und Anstand zu etablieren, sondern auch die Mittel, um Künstler und radikale Intellektuelle einzuladen, sie zu bezahlen und an Schweden zu binden.

Darunter unter anderem auch die Schriftstellerin Susan Sontag, die für einige Monate in Schweden wohnte, nachdem der Filmproduzent Göran Lindgren sie eingeladen hatte, Regie bei einer schwedischen Filmproduktion zu führen. In dieser Zeit publizierte Sontag auch den Essay „A Letter from Sweden“ (1969), in dem sie über ihre Eindrücke der schwedischen Kultur und des Gesellschaftslebens räsoniert und ein psychologisches Profil der Menschen in Stockholm entwirft.

„Die Schweden hatten ein ,Volksheim‘ geschaffen, wussten aber nicht, wie sie Menschen zu sich nach Hause einladen sollten“

Die Schlüsse des Texts muten dabei paradox an: Denn obwohl Sontag in Schweden laut eigenem Bekunden ideale professionelle und finanzielle Bedingungen für ihre Arbeit vorfindet, zweifelt sie stark daran, ob sie noch mal in das Land zurückkehren wird. 

Susan Sontags Beobachtungen beziehen sich auf die Zeit, in der der schwedische Wohlstand seinen Höhepunkt erreicht hatte und die wichtigsten und weitreichendsten Sozialreformen vollbracht waren. Die Menschen waren stolz, aber wirkten zaghaft.

Die Menschen waren fleißig, aber wirkten unbeholfen. Die Menschen kümmerten sich umeinander, aber wirkten geizig. Die Schweden hatten ein „Volksheim“ geschaffen, wussten aber nicht, wie sie Menschen zu sich nach Hause einladen sollten.

Sontag weist darauf hin, dass es in der schwedischen nationalen Identität ein besonderes Selbstverständnis gibt. Glaubt man ihr, dann nehmen sich die Schweden selbst und ihr System als politisch, ökonomisch und moralisch herausragend wahr – und erwarten vom Rest der Welt, es ihnen gleichzutun.

„Man sieht sich selbst als gut und überlegen, handelt faktisch aber nicht selten gemein und so, als ob man irgendwie doch unterlegen sei“

Gleichzeitig trägt die Idee des Volksheims, also die Annahme, dass die Gesellschaft für alle Bürgerinnen und Bürger wie eine Familie funktioniert, zu der Überzeugung bei, dass allen Menschen im Land etwas gemeinsam ist. Die Staatsbürger, so Sontag, sind in Gedanken aneinandergebunden, weil sie sich demselben „Volk“ zuordnen.

Und Kritik, die ihnen entgegengebracht wird, integrieren sie schnell in ihr nationales Selbstbild. „Sicher, sicher“, murmeln sie dann, „so ist das ganz sicher: Wir Schweden sind schüchtern, wir sind linkisch, so gehemmt.“ Gleichzeitig aber bestehen die Schweden stets darauf, dass sie eigentlich anders sind, als sie wirken.

Die Menschen in Schweden seien sehr darauf bedacht, zu versichern, dass sie keine bösen Absichten hegen, auch wenn ihre Handlungen nicht immer mit ihren Absichten übereinstimmen, resümiert Sontag. Man sieht sich selbst als gut und überlegen, handelt faktisch aber nicht selten gemein und so, als ob man irgendwie doch unterlegen sei.

„Schweden öffnete die Grenzen für Asylsuchende, ertrug es aber nicht, dass sie keine Schweden waren“

Das ist wohl auch der Grund für die Misanthropie, die sozialen Hemmungen und die Neurosen, die in Sontags Beobachtungen vorkommen, denn: Jeder menschliche Kontakt birgt die Gefahr, den Widerspruch zwischen Innen und Außen offenzulegen, zwischen Narrativ und Praxis, zwischen Selbstbild und Verhalten.

Dementsprechend beruht wohl auch die Fremdenfeindlichkeit in Schweden nicht vorrangig auf der Angst vor Fremden, sondern auf der Angst vor Gesprächen und Nähe. Als die Zuwanderung von Arbeitskräften in den 1970er-Jahren abnahm und Geflüchtete aus Chile und später, in den 1980er- und 1990er-Jahren, aus dem Iran, Irak, Libanon und dem Balkan nach Schweden kamen, veränderte sich die Stadtlandschaft.

Schweden öffnete die Grenzen für Asylsuchende, ertrug es aber nicht, dass sie keine Schweden waren. Theoretisch wollte man Nachbarn aus aller Welt haben, aber praktisch ertrug man es nicht, als sie einzogen.

In einer Studie, die in Schweden vor einigen Jahren durchgeführt wurde, geben frischgebackene Mütter an, dass sie es am liebsten hätten, wenn ihre Kinder in einer „diversen“ Umgebung aufwachsen würden, in der viele verschiedene Sprachen gesprochen werden und viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen.

„Viele Wählerinnen und Wähler sehen sich nicht als Rassisten, geben ihre Stimme aber trotzdem einer antidemokratischen und rassistischen Partei“

Doch kaum lag der Anteil der aus dem nicht europäischen Ausland zugewanderten Nachbarn in Schweden erstmals bei drei bis fünf Prozent, entschieden sich dieselben Mütter, in andere Viertel zu ziehen.

Ähnlich verhält es sich heutzutage mit einem Fünftel der Wahlberechtigten in Schweden: Genauso wie die frischgebackenen Mütter, die sich selbst für weltoffen halten und dann doch ganz anders handeln, so sehen sich viele Wählerinnen und Wähler nicht als Rassisten, geben ihre Stimme aber trotzdem einer antidemokratischen und rassistischen Partei.

Einmal mehr treffen hier die zwei Parallelwelten aufeinander, die in Schweden immer wieder offenbar werden: auf der einen Seite der Wohlfahrtsstaat, auf der anderen Seite die Sterilisierungsgesetze, hier der Wunsch nach Diversität, da die Flucht in die Einheitskultur,  da das Narrativ, hier die Handlungen.

Olof Palme wurde 1969 Ministerpräsident und blieb vorerst bis 1976 im Amt. Später kam er dann ein zweites Mal an die Macht und regierte das Land, bis er am 28. Februar 1986 in Stockholm einem Attentat zum Opfer fiel. Er starb ziemlich genau ein Jahr, nachdem meine Familie und ich als Flüchtlinge nach Schweden gekommen waren, zusammen mit einer Menge anderer Iraner.

„Kann man diese Menschen damit konfrontieren? Nein. Das geht nicht, weil sie sich eben selbst nicht erkennen“

Während die Kinder auf dem Schulhof uns den Hitlergruß zuwarfen und schrien, dass wir uns dorthin verziehen sollten, von wo wir kamen, und während der „Lasermann“, ein neonazistischer Terrorist, anfing, auf Menschen zu schießen, die er für „Einwanderer“ hielt, erzählte mir jeder meiner Lehrer, dass es in diesem Land keinen Rassismus gäbe. Geändert hat sich daran bis heute wenig.

Während viele meiner Kolleginnen und Kollegen einerseits bittere Tränen über das Schicksal Geflüchteter vergießen, sich mit kritischen Studien über das Weißsein befassen und Ausschüsse für Gleichbehandlung und Diversität gründen, fällt es ihnen andererseits schwer, einen Mitarbeiter zu akzeptieren, der einen anderen Hintergrund hat als sie selbst. Denn das würde ja vielleicht den Arbeitsplatz verändern oder die Methoden beeinflussen.

Kann man diese Menschen damit konfrontieren? Nein. Das geht nicht, weil sie sich eben selbst nicht erkennen. Der Rassismus liegt ihnen fern, so fern, dass sie die eigenen rassistischen Handlungen nicht erfassen können.

Und da stehen wir heute. Schwedens zweitgrößte Partei ist eine rassistische nationalistische Partei mit Wurzeln in der neonazistischen Bewegung. Sie vereint ein Fünftel der Wählerstimmen auf sich. Aber die Mehrheit der Menschen, die für sie gestimmt haben, sehen keinen Rassismus.

Aus dem Schwedischen von Stephanie von Hayek