Leben im Untergrund | Kunst

„Uralte Kräfte sind am Werk“

Der britische Bildhauer Antony Gormley erkundet seit seiner Kindheit Höhlen. Ein Gespräch über Fantasie, Ängste und die Spuren unserer Vorfahren, die ihm dort begegnen

Ein Gipsabdruck vom Körper Antony Gormleys. Der 25 mm starke Gips ist auf Höhe der Pupillen durchgeschnitten.

Antony Gormley: CAVE, 1986, Bleigips, 195 x 56 x 33 cm

Woher stammt Ihre Leidenschaft für Höhlen und unterirdische Orte?

Die Wahrheit ist, dass ich mich schon immer für Löcher interessiert habe, von Mäuselöchern bis hin zu einem Loch im Boden, das zum Hineinschauen einlädt. Wir leben in der Dunkelheit des Körpers und die Pupille erzählt uns von dieser Dunkelheit. Das erkennen wir in Löchern, und sie bitten uns hinein. Seit meiner Kindheit habe ich das Bedürfnis, in Löcher hineinzuschauen und hineinzugehen, in den Untergrund.

Ihr Interesse an unterirdischen Orten begann schon in Ihrer Kindheit?

Ja, ich habe mich schon in der Schule für Höhlen interessiert. Ich bin mein ganzes Leben lang in Löcher hineingegangen, sei es in die Höhle, die direkt unter Tintagel Castle im Norden Cornwalls liegt, oder in das Steinkohlebergwerk Prosper Haniel im Ruhrgebiet (wo ich zum Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland eine Skulptur geschaffen habe).

In Ihrer BBC-Dokumentation „How Art Began“ sind Sie in Höhlen auf der ganzen Welt gegangen und haben Höhlenzeichnungen als Wurzeln der Kunst erforscht.

Bei den Dreharbeiten hatte man beim Betreten der Höhlen das Gefühl, sich in die Venen und Arterien eines riesigen Systems vorzuwagen. Es war, als würde man widerrechtlich in den Körper der Erde eindringen. Einen Ort, an dem uralte Kräfte am Werk sind.

Es ist paradox: Einerseits vermittelt das Hinabsteigen in eine Höhle das Gefühl, in den Schoß der Mutter zurückzukehren, an einen schützenden Ort. Andererseits ist es ein riskanter Hohlraum, der überflutet werden kann, in dem die Decke einstürzen und die Luftzufuhr abgeschnitten werden kann.

Hatten Sie von Anfang an dieses Gefühl der Angst?

Ja, ich hatte Klaustrophobie – und habe noch immer eine tiefsitzende Angst davor, gefangen zu sein und mich nicht bewegen zu können. Das Gefühl ist sehr stark. Als ich die Passagen aus Robert Macfarlanes „Im Unterland“ las, in denen er beschreibt, wie er sich in einer engen Kalksteinkatakombe irgendwo unter der Metro im Zentrum von Paris befand, zitterten mir die Hände.

Die Katakombe war so unvorstellbar eng, dass er nur mit geneigtem Kopf hindurchgehen konnte; mit aufrechtem Kopf wäre er steckengeblieben. Die Metro brachte das Gestein um ihn herum zum Vibrieren. Ich musste das Buch weglegen! Aber trotz dieser Angst glaube ich, dass es uns zu diesen Räumen hinzieht. Sie versprechen, uns in einen neuen und größeren Raum zu entlassen: Die Akzeptanz der eigenen körperlichen Grenzen ist im Grunde mit dem Versprechen intellektueller oder geistiger Freiheit verbunden.

„In diese unterirdischen Räume zu gehen, gibt uns eine Art Intimität über die Zeit hinweg“

Welches Höhlenerlebnis hat Sie am meisten bewegt?

Die größte Höhle, in der ich je war, ist die Gouffre de Padirac in der französischen Dordogne. Die Haupthöhle ist über hundert Meter hoch. So etwas habe ich weder vorher noch nachher erlebt. Es ist, als wäre man in einer Art Deckenfresko von Tiepolo. Man blickt durch diese Kalzitwolken und sieht in achtzig Metern Entfernung winzige Menschen an einem Felsvorsprung hoch über einem, obwohl man tief unter der Erde ist.

In diese unterirdischen Räume zu gehen, gibt uns eine Art Intimität über die Zeit hinweg, es verflacht die Zeit. Die Ablagerungen dieses Kalksteins von vor Millionen von Jahren verschmelzen plötzlich mit der Gegenwart.

Ist das wie eine Zeitkapsel?

Nicht ganz, man spürt die Gegenwart der Vergangenheit; man spürt die Höhle so, wie die Künstler sie vor 25.000 Jahren empfunden haben. Dieses Gefühl der Unmittelbarkeit lässt die Zeit als lineare Erfahrung zusammenfallen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb uns Höhlen im Allgemeinen faszinieren: Die geologische Zeit wird greifbar und in unserer Lebenszeit präsent.

Und was fällt einem physisch als Erstes auf, wenn man eine Höhle betritt?

Wenn man eine Lichtquelle dabeihat, sieht man die ständigen Veränderungen und Wandlungen der Schatten. Schatten aller Art flackern um einen herum, menschliche und geologische – und sie bewegen sich ständig. Aber der vielleicht mächtigste Eindruck von allen ist die Akustik dieser Kammern und ihre Resonanz. Alles wird verstärkt: die Schritte, die Atmung, der Herzschlag. Das Gefühl der eigenen Sterblichkeit ist unter diesen Umständen überwältigend.

Und das verstärkt das Gefühl der Angst?

Schrecken und Schönheit halten sich in großen unterirdischen Höhlen die Waage. Ich habe eine Schwäche für das Unheimliche.

„Es ist kein Zufall, dass unsere Vorfahren die Höhle als Atelier für ihre Kreativität genutzt haben“

Und gleichzeitig wecken diese unterirdischen Orte die Kreativität?

Wenn man unter die Erde geht, ist es, als würde man die Augen schließen und in die Dunkelheit des Körpers gehen. Wir verbringen einen Großteil unseres Lebens damit, vor dieser inneren Leere – unserem Raum der Fantasie und des Potenzials – wegzulaufen.

Ich denke, es ist kein Zufall, dass unsere Vorfahren die Höhle als Atelier für ihre Fantasie und ihre Kreativität genutzt haben. In El Castillo in Nordspanien und vielen anderen Höhlen der Neandertaler finden wir abstrakte kreative Werke: sich wiederholende Muster aus Punkten und Linien, abstrakt und rhythmisch, Notationen von Intervallen.

Unsere Vorfahren verließen die überirdische Welt des Lichts und der Elemente und gingen in eine Höhle, um die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen neu zu erschaffen. Im Film gab es das außergewöhnliche Bild der beiden Rentiere, der Hirsch leckt den Körper der knienden Renkuh in der Höhle Font de Gaume in der Dordogne ab. Und das lädt zu einer sehr realen empathischen Identifikation mit anderen Lebewesen ein.

Überall auf der Welt gibt es Handabdrücke an Höhlenwänden. Glauben Sie, dass Menschen dort absichtlich ihre Spuren hinterlassen haben?

Diese Abdrücke sind mehr als das. Für mich geht es um eine Energie, die von der anderen Seite der Wand ausgeht: Ich glaube, die Menschen versuchten, eine Verbindung zu dem herzustellen, was sich auf der anderen Seite des Gesteins befindet. Es ist interessant, dass es diese unterirdischen Handabdrücke überall auf der Welt gibt.

In den Maros-Höhlen auf der indonesischen Insel Sulawesi sind die Handabdrücke 35.000 bis 40.000 Jahre alt, also doppelt so alt wie zum Beispiel in Lascaux in Frankreich. Vor Kurzem hat man in Borneo sogar noch ältere Handabdrücke gefunden.

Auch in Ihrer Arbeit als Bildhauer sind Sie immer wieder zu Bunkern und Höhlen zurückgekehrt.

Bunker sind im Grunde von Menschen geschaffene Höhlen. Als ich nach Jütland fuhr, sah ich die riesigen Bunker, die die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs gebaut haben, Teile des „Atlantikwalls“. Ich war beeindruckt, wie diese nun ausgespült am Strand liegen, halb vom Sand bedeckt. Man kann hineinschlüpfen und dort eingeschlossen liegen und dem Echo der Seevögel und dem Rauschen der Wellen lauschen.

Das erinnert mich an eine Arbeit mit dem Titel „Cave“, die ich bei den Frieze Masters in London zum ersten Mal seit 1986 ausstellen werde. Es handelt sich um einen Gipsabdruck meines Körpers. Ich habe den 25 Millimeter starken Gips auf Höhe der Pupille durchgeschnitten und so den Zugang zu dem dunklen Inneren ermöglicht, in dem sich einst mein Körper befand. Ich dachte über den Körper als Bunker nach, in dem Bewusstsein, dass wir uns in seinem geschützten Raum aufhalten.

Sie haben noch eine weitere Arbeit mit dem Titel „Cave“ geschaffen, die 2019 in der Londoner Royal Academy zu sehen war. Diesmal haben Sie eine Höhle mit vielen schwarzen Quadern nachgebaut.

Ja, ich wollte den Menschen in der neoklassischen Architektur der Royal Academy ein Urerlebnis bieten, eine Rückkehr zur Höhle, einen Ort zum Träumen und Entfliehen. Man muss sich bücken, um hineinzugelangen, wie wenn man ein Langhaus in Borneo oder im Amazonasgebiet betritt. Im nächsten Raum habe ich 50.000 Liter Wasser aus dem Atlantik mit fünf Tonnen Ton vermischt, die sich zu einem stillen Gewässer entwickelten.

In dem großen Ausstellungsraum gab es kein elektrisches Licht, und nachts war es dunkel, aber man konnte das Meer spüren und riechen. Es könnte eine Nachbildung der unheimlichen Begegnung mit einem See tief unter der Erde sein. Ich wollte die Dinge neu erden und mich auf die Elemente konzentrieren, um eine Begegnung mit dem Greifbaren zu ermöglichen, fernab all der Möglichkeiten, mit denen die Cyberwelt das Leben virtualisiert.

Das Interview führte Jess Smee

Aus dem Englischen von Claudia Kotte