Rund sechzig Kisten vollgestopft mit Briefen, Dokumenten und zum Teil losen Manuskriptseiten: So fanden zwei junge Forscherinnen aus Deutschland den Nachlass des Publizisten und Bibliothekars Heinrich Loewe in der Stadtbibliothek Tel Aviv vor.
„Teilweise wurden die Sachen in Plastikboxen aufbewahrt, um sie besser zu schützen – doch das ist nicht die richtige Aufbewahrungsart für 120-jährige Dokumente“, erinnert sich die Theaterwissenschaftlerin und Historikerin Judith Siepmann. Gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Literaturwissenschaftlerin Lena Barouch, sollte sie nun Ordnung in das Chaos bringen.
Ihre Arbeit ist Teil einer Kooperation der Hebräischen Universität Jerusalem und des Deutschen Literaturarchivs Marbach mit dem Ziel, Nachlässe von Schriftstellern und Gelehrten, die in den 1930er-Jahren nach Palästina emigriert sind, zu erschließen und für die Forschung aufzubereiten. Die Koordinatorin des Projekts, Caroline Jessen, ist sich sicher, dass in israelischen Archiven und Privatbesitz noch zahlreiche Dokumentenschätze schlummern, die wertvolle Aufschlüsse über das Leben und Wirken deutscher Juden im heutigen Israel geben könnten. Doch die Archive und Bibliotheken vor Ort haben oft keine Kapazitäten, diese Schätze zu bergen.
„In vielen Fällen fehlt es an deutschsprachigem Personal in den Archiven“, sagt die Wissenschaftlerin Siepmann. Diese Lücke will die Kooperation füllen, indem sie deutschen Studenten und Doktoranden im Rahmen eines Stipendiums ermöglicht, Einblicke in die Archivarbeit zu bekommen und parallel ihre Forschung voranzutreiben. Siepmann hat zum Beispiel einen Aufsatz über Heinrich Loewe verfasst, der sich schon früh für den Aufbau einer jüdischen Nationalbibliothek engagierte und 1933 Leiter der Tel Aviver Stadtbibliothek wurde. Von diesem Zeitpunkt an pflegte Loewe regen Briefkontakt mit weit über tausend Korrespondenzpartnern. Neben den Briefwechseln mit prominenten Namen wie Martin Buber und Käthe Kollwitz sind vor allem jene mit potenziellen Spendern für Loewes Bibliothek interessant. Sie geben einen berührenden Einblick in die Schicksale deutsch-jüdischer Emigranten, von denen einige ihre Bücher, die einen Teil ihrer bildungsbürgerlich-deutschen Identität verkörperten, nur ungern in öffentliche Hand übergaben. Häufig konnten sie sie aber nicht mit ins Exil nehmen oder erhofften sich als Gegenleistung für die Schenkung Hilfe bei der Ausreise.
Die Hamburger Germanistin Sonja Dickow hat sich um den Nachlass des Journalisten und Autors Cheskel Zwi Kloetzel gekümmert. Auch Kloetzel emigrierte 1933 und arbeitete als Korrespondent für die Palestine Post. In Deutschland hatte er unter anderem für die zionistische Jüdische Rundschau und die Vossische Zeitung geschrieben sowie zahlreiche Jugend- und Reisebücher verfasst. Litauen, die Türkei, Afghanistan, die Vereinigten Staaten, Sudan, Indien – kaum ein Land, über das Kloetzel nicht berichtete.
Dickow beschreibt die Arbeit im Archiv als horizonterweiternd: „Da wurden unheimlich viele verschiedene Sprachen gesprochen: Jiddisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Englisch und natürlich Hebräisch.“ Beeindruckt hat sie auch die Zusammenarbeit mit Kloetzels heute 95-jähriger Tochter Cary, die ihr als Beraterin zur Seite stand. Dass die Germanistin aus Deutschland kommt, sei schon ein Thema gewesen, „aber ein produktives“, erzählt Dickow. „Es wurde von Cary als durchaus positiv wahrgenommen, dass man sich für das Wirken ihres Vaters interessiert.“ Sie berichtet von „Glücksmomenten“, wenn ihr während der Arbeit der Brief einer berühmten Persönlichkeit wie Max Brod in die Hände fiel. Und von der Faszination, einen Brief von Cary als jungem Mädchen zu lesen, sie aber gleichzeitig als ältere Dame vor sich zu sehen, „nicht als Romanfigur, sondern als konkrete Person“.
Allerdings ist es Dickow wichtig, dass es bei ihrer Arbeit nicht darum ging „intimen Dingen nachzuspüren“. Bei allem Wissensdrang müsse man immer auch „den Menschen hinter den Briefen und Fotos im Kopf behalten“.