Herr Körner, was ist der „Ankara-Islam“?
In der Türkei gibt es, anders als in vielen islamischen Ländern, muslimische Hochschultheologie auf hohem Niveau. 1948 wurde die erste Fakultät in Ankara gegründet. Hier arbeiten Wissenschaftler mit modernen Forschungsmethoden an den heiligen Texten und an der Frage, wie man den Glauben heute lebt. Die „Ankaraner Schule“ ist eine Strömung, die sich besonders wach mit westlicher Philosophie auseinandersetzt und den Islam neu denkt.
Welche Ansichten aus dem Koran werden neu interpretiert? Können Sie ein Beispiel nennen?
Hat die Zeugenaussage einer Frau weniger Gewicht als die eines Mannes? Ein ägyptischer Muslim erklärte einmal: Die Frau hat im Haus so viel zu tun, da kann sie sich doch nicht alles merken. In Ankara sagt Ihnen jeder Theologe, dass so eine Ansicht zeitbedingt ist und dass Männer und Frauen heute gleichberechtigt sein müssen. An der Spitze der theologischen Fakultät in Ankara steht eine Frau. Das ist selbst an christlich-theologischen Fakultäten ungewöhnlich.
Wie reagieren die Türken auf die Neuinterpretationen?
Die Muslime suchen händeringend nach einer Antwort auf die Frage: Wie können wir ein modernes Land sein und zugleich treue Muslime? Da sind die Überlegungen der Ankaraner Theologen hilfreich, gerade wenn sie alte Selbstverständlichkeiten infrage stellen.
Das Gespräch führte Laura Geyer