Indigenes Kino | Kanada

„Die Kamera ist unsere Waffe“

Odile Joanette und Gloria Morgan drehen Filme mit Indigenen. Was passiert, wenn Menschen ihre eigene Geschichte erzählen? Ein Gespräch

Ein Porträtbild von zwei indigenen Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren. Beide lächeln in die Kamera.

Odile Joanette und Gloria Morgan

Frau Joanette, Sie sind die Geschäftsführerin von Wapikoni Mobile, einer kanadischen NGO, die indigenen Gemeinschaften beibringt, wie man Filme dreht. Warum Filme?

Joanette: Das Medium passt zum Geschichtenerzählen. Früher saßen wir am Feuer und erzählten uns Geschichten. Die Werte und Traditionen der First Nations wurden mündlich überliefert. Doch heute bieten Filme eine großartige zeitgenössische Möglichkeit, diese Tradition in die Gegenwart zu transportieren.

Morgan: Gemeinsam einen Film zu machen ist so, als würde man einen Stein ins Wasser werfen: Er zieht Kreise. Man diskutiert darüber und zeigt ihn anderen Menschen.

Frau Morgan, Sie haben an dem Projekt teilgenommen. Wie kamen Sie dazu? 

Morgan: Ich bin eigentlich Anwältin, hätte aber immer gerne einen Film gemacht. „Großmutters Hände“ sollte er heißen und darum gehen, wie ich mein Wissen an die nächste Generation weitergebe. Ich bin 66 Jahre alt und hatte noch nie einen Film gedreht, als eines Tages in meinem Heimatort in British Columbia plötzlich dieser große Truck mit der Aufschrift „Wapikoni“ stand. Ich ging hin, fragte, was sie da tun – und war begeistert! 

Joanette: Wir packen einen Truck mit Filmausrüstung. Von Mai bis Oktober reist ein fünfköpfiges Team durch Kanada und stoppt in kleinen indigenen Gemeinden, in jeder für vier Wochen. In dieser Zeit können Interessierte alles übers Filmemachen lernen und selbst Kurzfilme drehen.  

Was bedeutet es für die Teilnehmenden, vielleicht zum ersten Mal eine professionelle Kamera in der Hand zu halten?

Joanette: Die Kamera ist unsere Waffe. Aber sie ist eine positive, schöpferische Waffe, keine zerstörerische. Durch den Prozess des Filmemachens kreieren wir unsere Identitäten. Es geht darum, nicht mehr unsichtbar zu sein.

Was meinen Sie mit unsichtbar?

Joanette: Wir Indigenen Kanadas haben so viel Schmerz erfahren. Der Rassismus und die Marginalisierung über Jahrhunderte hinweg haben ein generationenübergreifendes Trauma erzeugt. Darum denken immer noch viele von uns, wir müssten unsichtbar sein, um zu überleben.

Morgan: Viele junge Leute sind so hoffnungslos. Und es gibt ja auch Probleme, die in unserer jahrhundertelangen Diskriminierung wurzeln: die vielen Schulabbrüche, der Drogenmissbrauch, die hohe Selbstmordrate, die Gewalt ...

Was muss geschehen, damit sich diese jungen Menschen sicherer fühlen können?

Morgan: Wunden brauchen Zeit zum Heilen. Und da kommt Wapikoni ins Spiel: Es macht stark, die eigene Geschichte zu erzählen. Und damit meine ich die guten wie die schlechten Geschichten. 

Joanette: Nicht jedes Land ist bereit für Versöhnung. Als Erstes muss anerkannt werden, dass Unrecht geschehen ist. Das ist nicht einfach. Im zweiten Schritt müssen wir das Ungleichgewicht an Rechten und Privilegien benennen. Ein wichtiger Anfang ist das Bildungssystem, das indigenes Wissen ignoriert. Klassische Hierarchien zwischen Lehrenden und Schülern entsprechen nicht unserer Art zu lernen. 

Wie unterscheiden sich Ihre Lehrmethoden davon?

Morgan: Wir lernen durch Tun, Sehen und Berühren. 

Joanette: Und wir glauben an kollektives Schaffen. Bei uns gibt es keinen festen Zeitplan, keine Hierarchie. Wir teilen Wissen. Und das funktioniert! Jedes Jahr entstehen über hundert neue Kurzfilme von 500 neuen Teilnehmenden. Es ist verrückt. Und diese Kurzfilme werden nun auch auf internationalen Filmfestivals wie der Berlinale gezeigt.

Was nehmen die Menschen aus den Projekten mit?

Joanette: Die Fähigkeit, Filme zu machen, ein Zugehörigkeitsgefühl und das Wissen, wertvoll zu sein. Es geht darum, Funken zu entfachen. Laut, stolz und sichtbar zu sein.   

Das Interview führte Gundula Haage