Literatur | Taiwan

Briefe zwischen Taipeh und Peking

Der taiwanische Autor Wu Ming-Yi und der chinesische Literat Yan Lianke haben sich für uns auf einen Briefwechsel eingelassen. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher Austausch über Zensur, Verlust und einen Schmerz, der zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommt

Wu Ming-Yi steht vor einem vollen weißen Bücherregal. Man sieht ihn bis zur Brust. Er trägt ein dunkles Sakko und dunkles Hemd. Sein Blick durch die schwarze Metallbrille ist ernst.

Der taiwanesische Autor Wu Ming-Yi

Hualien, Taiwan
Verehrter Yan Lianke,

Ihnen nach vielen Jahren als treuer Leser einen Brief zu schreiben, anstatt mich in einem Ihrer Bücher zu verlieren, fühlt sich – ehrlich gesagt – seltsam an. Begonnen habe ich vor langer Zeit mit „Dem Volke dienen“ und „Der Traum meines Großvaters“. Nachdem ich damit fertig war, besorgte ich mir alles von Ihnen, was ich nur in die Finger kriegen konnte. Und als ich selbst damit begann, Schreibunterricht zu geben, wurde „Romane entdecken“ zu einem meiner wichtigsten Einführungstexte bei der Arbeit mit taiwanischen Nachwuchsautorinnen und -autoren.

Jedes Mal, wenn ich einen neuen Kurs voller unverbrauchter junger Menschen in Empfang nehme, die allesamt davon träumen, selbst Bücher zu schreiben, beginne ich mit folgendem Zitat von Ihnen: „Große Literaturkritiker wissen immer ganz genau, wie ein Autor hätte schreiben müssen, um das Prädikat ›gut‹ zu bekommen; ein guter Schriftsteller hingegen weiß nie, wie er schreiben muss, damit das, was er schreibt gut, neu, großartig wird. Ein Hauch Unsicherheit, ein Fünkchen Zweifel, dazu etwas Wagemut mit einer Prise Angst – so etwa sieht sein Idealzustand beim Schreiben aus.“

Mit diesen Worten heiße ich die jungen Leute willkommen, die sich erhoffen, durch meinen Unterricht initiiert zu werden in das Geheimnis, „wie man einen guten Roman schreibt“. Gibt es dieses Geheimnis überhaupt? Ich sehe es so: Es werden zwar laufend Kochbücher geschrieben, doch kein Starkoch stützt sich bei seiner Kunst nur auf das Studium von Rezepten. Ihre Ausführungen waren mir stets eine große Inspiration, allen voran diese: „[Es gilt,] den innersten Kern einzufangen, das, für das die Leute blind sind, was von der sogenannten Realität verdeckt wird, um die Logik zu vermitteln, die hinter allem steckt, die aber niemand je formuliert oder dokumentiert hat. Nur so erschließt sich uns, warum das Leben, warum die menschliche Natur, warum die Welt so ist, wie sie ist.“

„Und doch kommt es oft genug vor, dass wir selbst auch nicht wirklich begreifen, warum die Welt so ist, wie sie ist, nicht wahr?“ 

Diese Worte sprechen noch heute zu mir und erinnern mich daran, worum es mir beim Schreiben geht. Und doch kommt es oft genug vor, dass wir selbst auch nicht wirklich begreifen, warum die Welt so ist, wie sie ist, nicht wahr? Oder wir kommen zumindest nicht dagegen an. Es gab eine Zeit, da waren Bücher aus China in Taiwan verboten. Doch während meiner Schulzeit wurde der Ausnahmezustand im Jahr 1987 aufgehoben. Chinesische Literatur und Filme konnten fortan mein Kunstempfinden mitprägen.

Dann, nach einer Phase regen Austauschs, kühlten die Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße allmählich ab. Und heute unterliegen meine Werke in China einem – unausgesprochenen – Publikationsverbot. Es fiel mir lange schwer zu verstehen, warum einige Ihrer Bücher auch mit Verboten belegt waren. Damals mangelte es mir wohl noch am Sinn fürs Absurde beziehungsweise für die „Mythorealismus“, wie Sie es nennen.

Ich war schon einmal in Peking und hatte die Ehre, ein einleitendes Vorwort für die taiwanische Ausgabe von „Haus Nummer 711“ beisteuern zu dürfen. Jetzt sitze ich selbst in meinem kleinen Gartenhäuschen in Hualien und schreibe Ihnen. Dabei muss ich an den Spatenstiel aus Weidenholz denken, von dem Sie einmal geschrieben haben. Sie ließen ihn einfach im Garten in der Erde stecken, wo er neu austrieb, bis ein paar Jahre später wieder ein Baum daraus geworden ist. Ich denke an das Manuskript, das Sie in Wasser einweichen, um mit dem Papierbrei Bambusstauden zu düngen...

Draußen vor meinem Fenster fallen in diesem Moment die Sonnenstrahlen auf eine Bananenstaude, die dieses Jahr bereits kräftig gewachsen ist. Bananen reifen nur schwer, wenn sie an der Staude hängen. Eine Methode, wie man den kui-tsâng – das ist Taiwanisch für den gesamten Fruchtbüschel – in einem Stück auf natürlichem Weg zur Reife bringt, besteht darin, ein Loch in den Stängel zu bohren, eine Schlaufe aus Aluminiumdraht hindurchzuziehen und der Sprossachse damit einen Einschnitt zuzufügen, wodurch Staude und Frucht in einen Zustand zwischen Verbunden- und Getrenntsein versetzt werden.

Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Hochachtungsvoll
Ming-Yi

Aus dem Mandarin von Johannes Fiederling


Ein Mann mit grauen Haaren steht in einem Pavilon und schaut seitlich in die Ferne. Er trägt eine warme Jacke und einen Schal, die Stimmung ist winterlich. Hinter ihm liegt ein Teich.

Yan Lianke in Peking

Peking, China
Lieber Ming-Yi,


in diesem eisigen, staubtrockenen Winter Ihren Brief zu lesen, hat mir in der Trostlosigkeit, die ich seit Längerem empfinde, eine seltene Freude beschert. Vor gut zwei Monaten ist meine hochbetagte Mutter in ihrer ländlichen Heimat in der Provinz Henan an Corona erkrankt und hat einen Schlaganfall erlitten. Seitdem ist sie gelähmt und leidet obendrein an Gedächtnisverlust und Verwirrung. Deshalb ist unser Leben daheim völlig aus den Fugen geraten, und ich komme kaum noch zum Lesen oder Schreiben, finde keine Muße mehr für die Literatur und keinen Trost mehr in ihr.

Und gerade in dieser Zeit der inneren Haltlosigkeit hat mich Ihr Brief aus meiner Bedrückung gerissen und mich ein wenig zur Ruhe kommen lassen, sodass ich wieder über die Literatur nachdenken kann, über meine Liebe zum Lesen und Schreiben und auch über die aufrichtige, tiefe Liebe, die ich jenseits aller Politik für Taiwan empfinde.

Dabei kommt mir wieder in den Sinn, wie ich zum ersten Mal die festlandchinesische Ausgabe Ihres „Buchs der verlorenen Schmetterlinge“ las und wie erstaunt ich über die Wahrhaftigkeit war, mit der hier jemand sprach. Das Buch ist von einer solchen sprachlichen Reinheit, von einem solchen Einfühlungsvermögen in das Leben eines Schmetterlings und einer solchen fürsorglichen Liebe, als wäre der Erzähler in die Wolken aufgestiegen und hätte dort mit seinen kindlichen Worten einen Trank von wundersamer Heilkraft heraufbeschworen.

Vielleicht habe ich das noch nie ausgesprochen, aber die Liebe, die ich für die Werke von Ihnen und Ihren taiwanischen Schriftstellerkollegen empfinde, gründet in dem Respekt, den Sie der Sprache entgegenbringen: Mit welchem Bedacht und doch auf welch zwanglose und natürliche Weise Sie jedes Ihrer Worte wählen! Die Werke wirken wie aus einem Guss und sind von makelloser Schönheit. Wenn ich im Licht dieser Werke meine eigenen Bücher betrachte, geht mir erst auf, dass ich auf dem Feld der Sprache nur imstande bin, Hühnerhirse und anderes Grobgetreide zu kultivieren.

„Ich denke darüber nach, was für eine Verwirrung bei uns herrscht, die aus dem Widerstreit von Moderne und Tradition, aus der schwankenden Haltlosigkeit unserer Existenz und ihrer Absurdität jenseits aller Logik erwächst.“ 

Wie derb meine Bücher doch sind! Deshalb halte ich Ihr „Buch der verlorenen Schmetterlinge“ in meinem Bücherregal jederzeit griffbereit, und seit ich Ihren „Mann mit den Facettenaugen“ gelesen habe, stehen Ihre Werke sogar gleich neben modernen Klassikern wie den Erzählungen und Romanen von Shen Congwen und Xiao Hong. Meine Liebe zur taiwanischen Literatur führt mich oft zum Nachdenken über andere Fragen, nämlich darüber, wie komplex das Leben bei uns auf dem Festland ist. Wie grotesk und bedeutungsschwer.

Ich denke darüber nach, was für eine Verwirrung bei uns herrscht, die aus dem Widerstreit von Moderne und Tradition, aus der schwankenden Haltlosigkeit unserer Existenz und ihrer Absurdität jenseits aller Logik erwächst. Man muss nur nach Belieben irgendeine Handvoll Erde aus dieser prallen Lebenswirklichkeit herausgreifen, Erde, auf der irgendjemand seine Spuren hinterlassen hat, und schon hat man ein ganzes Schicksal voll innerer Wahrheit, das Stoff genug für einen neuen Klassiker bietet. Wir festlandchinesischen Schriftsteller müssen wenig Mühe auf die Fiktion, die Fantasie oder die handwerkliche Raffinesse verwenden. Wir müssen nur mit einem offenen, nicht indoktrinierten Blick und aufrichtigem Mut unserer Wirklichkeit ins Gesicht sehen.

Aber eben dazu sind wir außerstande. Im Angesicht der Wirklichkeit verlassen uns die Aufrichtigkeit und der Mut. Selbst wenn wir diese Aufrichtigkeit und diesen Mut einmal aufbringen, ist unsere Sprache immer noch zu grob und zu primitiv. Auch wir schreiben Chinesisch, aber es ist, als würden wir mit einer Handvoll Heu ein traditionelles Gemälde malen wollen. Deshalb blicke nicht nur ich, sondern blicken auch viele unserer jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller voller Neid auf die sprachliche Gestaltungskunst, die Sie und andere taiwanische Schreibende auszeichnet. Wir gleichen einem Haufen von Stottererinnen oder Stummen, die professionellen Vortragskunstschaffenden dabei zusehen, wie sie wechselweise die Bühne betreten.

Darin schwingt mehr als nur Neid mit, nämlich Hochachtung. Bei mir persönlich rührt diese Hochachtung auch daher, dass viele meiner Bücher erst auf dem Weg über Hongkong oder Taiwan Verbreitung gefunden haben, darunter die von Ihnen erwähnten „Dem Volke dienen“ und „Der Traum meines Großvaters“, aber auch jüngere Werke wie „Die vier Bücher“, „Der Tag, an dem die Sonne starb“, „Das Herz-Sutra“ oder „Eine chinesische Geschichte“. Ohne die großzügige Unterstützung durch das taiwanische Publikum und die Verlage wüsste ich nicht einmal, ob ich noch weiterschreiben würde. Ehrlich gesagt, Ming-Yi: Ich bin außerstande, die Veröffentlichung und auch die Wiederveröffentlichung meiner Bücher so gelassen zu sehen wie Sie.

Die Umgebung, in der ich lebe, hat mich höchst empfindlich gegenüber solchen Dingen werden lassen. Meine Leserschaft in Hongkong und Taiwan gibt mir meine Antriebskraft und meinem Schreiben seinen Sinn. Und deshalb ist auch die Liebe, die ich für die taiwanische Literatur empfinde, derart stark, dass ich sie nicht in Worte fassen könnte und auch gar nicht sollte, um nicht zu einem lästigen Quälgeist zu werden.

Darum breche ich meinen Brief an dieser Stelle lieber ab. Ich hoffe, oft und bald wieder von Ihnen zu hören; hoffe, dass wir uns, wo und wann auch immer, wiederbegegnen werden und uns dann, ausgehend von Sprache und Literatur in Taiwan und Festlandchina, über alle nur erdenklichen Fragen der Literatur unterhalten werden, über die Unterschiede zwischen unserem Schreiben und über unsere Möglichkeiten; aber auch über das, was uns am meisten am Herzen liegt und uns umtreibt, über unsere Familien und die Art, wie wir wohnen und leben; über das Chaos, das in dieser Welt herrscht; über das, was wir ersehnen und verabscheuen; und über das, was wir für die Welt tun können und was nicht. Lassen Sie uns vom Einbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung reden, von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit und weiter, bis der nächste Morgen graut.

Der Winter ist eisig und staubtrocken, passen Sie gut auf sich auf!
Ihr Lianke

Aus dem Mandarin von Marc Hermann


Der taiwanische Autor Wu Ming-Yi steht im Grünen zwischen Bäumen und Farnen. Er trägt einen dunklen Anzug und ein dunkles Hemd, beide Daumen sind in seinen Hosentaschen eingehakt. Sein Blink durch die schwarze Brille ist ernst.

Der Autor Wu Ming-Yi

Taipeh, Taiwan
Verehrter Yan Lianke,


als ich Ihre Antwort auf meinen Brief erhielt, befand ich mich gerade auf der Rückreise von Hualien nach Taipeh und geriet vor Freude ein wenig aus der Fassung. Es muss schon über zehn Jahre her sein, dass Sie in Hualien waren. Oft wünsche ich mir, Sie würden noch einmal zu Besuch kommen und den Studierenden Gelegenheit geben, Sie in Ihrer ebenso humorvollen wie tiefgründigen Art einmal aus nächster Nähe zu erleben.

In Ihrem Brief berichten Sie von Ihrer Mutter. Bei mir war es in den letzten Jahren ganz ähnlich. Nach einer schweren Krankheit kann sie kaum noch gehen und ich besuche sie mehrmals pro Woche, um ein wenig mit ihr zu sprechen oder sie in ihrem Rollstuhl zum Tempel zu schieben, damit sie beten kann. Es ist eines der wenigen Dinge im Leben, die ihr noch Halt geben. Woche für Woche betet sie so und ich vermag nicht mehr zu sagen, ob es die Medizin ist, die sie am Leben hält, irgendeine unsichtbare Gottheit oder ob es unsere Gegenwart ist, die ihr Kraft spendet.

Sie sprechen in Ihrem Brief die Publikationsfreiheit in Taiwan und Hongkong an und auch in Aufzeichnungen Ihrer Vorträge kommt dieses Thema zur Sprache. Ich habe noch eine Erinnerung an die Zeiten, als die Kuomintang-Regierung in Taiwan kein freies Verlagswesen zuließ und Hongkong das Fenster war, durch welches eine ganze Generation von Intellektuellen hierzulande einen Blick auf die Welt erhaschen konnten, da dort in großem Umfang Werke aus dem Westen in Übersetzung erschienen. Während meiner Zeit als Gastdozent an der Chinese University of Hongkong vor ein paar Jahren erzählten mir die Studierenden, dass sukzessive verboten wurde, Unterricht auf Kantonesisch abzuhalten. Freunde berichteten unter der Hand von der Selbstzensur in den Verlagen, die seit den Regenschirm-Protesten gang und gäbe sei.

„Bevor ich gestern zur Fahrt in den Norden aufgebrochen bin, habe ich im Garten eine Handvoll Zwergtomaten gepflückt, um sie meiner vierjährigen Tochter mitzubringen.“

Wie Sie schreiben, erschien Ihr Buch „Chinesische Geschichten“ vorletztes Jahr bereits in Taiwan und ich bin überzeugt, ganz gleich worüber Sie auch schreiben, die taiwanischen Verlage werden auch in Zukunft keinen Moment zögern, Ihr Werk von hier aus der chinesischsprachigen Welt zugänglich zu machen. Was meine Veröffentlichungen in China angeht, so handelte es sich dabei um Werke, die als „veröffentlichbar“ durchgingen. „Geträumte Routen“ und „Das gestohlene Fahrrad“ handeln von Taiwans „japanischer Zeit“ und unserer komplexen Identitätsfrage, sodass eine Veröffentlichung in China wohl ohnehin nicht infrage käme. Glücklicherweise sind die Mauern unserer Zeit nicht mehr absolut. Es gibt Wege, sie zu überwinden und zu durchlöchern.

In einem Ihrer Vorträge sagten Sie einmal, das größte Problem beim Schreiben in einem sozialistischen System sei nicht der „eiserne Käfig“, sondern die sich mit der Zeit einschleifende „Selbstkontrolle“. Zwar ist die Gesellschaft, in der ich lebe, eine andere, aber durch die rasante Entwicklung der sozialen Medien ist in meiner und wohl erst recht in der Generation Schreibender nach mir ebenfalls eine Art „Selbstkontrolle“ anzutreffen. Man sollte meinen, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller über genug Tiefgang und Fantasie verfügen. Doch durch soziale Medien werden sie unbewusst dazu verleitet, ihren Anhängerinnen und Anhängern etwas vorzuspielen, um bestimmten Erwartungshaltungen gerecht zu werden. Es ist eine ganz eigene Art, die Seele zu negieren und zu zermürben, vor der ich mich versuche, so gut es geht in Acht zu nehmen.

Seit einigen Jahren sage ich oft, dass es nicht etwa großes Talent, besondere Fähigkeiten oder ausgefallene Umstände sind, die mich zum Schreiben geführt haben, sondern dass es umgekehrt das Schreiben ist, das mein Leben ungemein bereichert hat: die Figuren, die ich zeigen möchte, all die Welten und Ereignisse, Phantasmen und Traumgebilde, Kämpfe und Widerstände; dazu die Bücher, die ich unterwegs gelesen habe, und das Wissen, mit dem ich in Berührung gekommen bin. Denn selbst in dieser von Profit und Eigeninteresse dominierten Epoche gibt es Werke, die uns Wege des Widerstands aufzeigen und deren Wirkung so herrlich beständig ist wie die Umlaufbahn eines Planeten um seinen Fixstern. Ihr Werk gehört zu den wichtigsten Wegmarken auf dieser Bahn.

Bevor ich gestern zur Fahrt in den Norden aufgebrochen bin, habe ich im Garten eine Handvoll Zwergtomaten gepflückt, um sie meiner vierjährigen Tochter mitzubringen. Weil ich keinen Kunstdünger verwende, sind meine Tomaten zwar nicht sonderlich süß, aber wenn ich frühmorgens vor der Heimfahrt welche ernte, stecke ich mir die bereits Aufgeplatzten einfach in den Mund. Sie haben ihren ganz eigenen Geschmack. Wenn Sie das nächste Mal nach Hualien kommen, müssen Sie unbedingt einmal davon probieren.

Frühlingsgrüße,
Ming-Yi

Aus dem Mandarin von Johannes Fiederling


Ein Mann mit grauen Haaren sitzt in einem Pavillon, den Arm auf das rötlich lackierte Geländer gestützt und schaut seitlich in die Ferne. Hinter ihm liegt ein Teich, die Stimmung wirkt winterlich.

Yan Lianke in einem Park in Peking 

Peking, China
Lieber Ming-Yi,


wenn ich Ihre Briefe lese, durchströmt mich ein Gefühl der Wärme, und diese Wärme empfinde ich auch, wenn ich Ihnen antworte. Ich danke Ihnen für diese sanfte Wärme. Besonders die Szenen, wie Sie Ihre Mutter jede Woche zum Tempel schieben und wie Sie für Ihre Tochter frische Tomaten im Garten pflücken, stehen mir lebhaft vor Augen. In meinem letzten Brief habe ich davon gesprochen, wie außerordentlich empfindlich ich bin, wenn es um die Veröffentlichung oder auch nur Wiederveröffentlichung meiner Bücher geht. Tatsächlich stumpfe ich in diesen Dingen schon allmählich ab, wie ein Mensch, der nach einem großen Blutverlust keinen Schmerz mehr verspürt.

Offen gesagt bin ich jetzt mit meinen 65 Jahren in einem Alter, das mich aus allen Gewissheiten herausreißt und mich die eigene Nichtigkeit fühlen lässt. In diesem Alter sollte sich ein Schriftsteller – einmal abgesehen von der Frage, was für Werke er in den Jahren, die ihm noch bleiben, zu schreiben gedenkt – wahrscheinlich nicht mehr in allzu vielen Grübeleien verlieren. Ehrlich gesagt begegne ich dem Leben mit einem gewissen Fatalismus.

Wenn ich an Lu Xun, Lao She, Shen Congwen, Zhang Ailing und all die anderen leuchtenden Sterne am Firmament der modernen chinesischen Literatur denke, so waren ihnen bei all dem überbordenden Talent, mit dem sie gesegnet waren, doch nur zwanzig oder dreißig Jahre vergönnt, in denen sie ihr Schaffen in voller Blüte entfalten konnten. Danach hatten sich die Zeiten so sehr gewandelt, dass eine ganze Generation verstummte. Zwar trat mit dem Anbruch des „neuen“, kommunistischen China auch eine Generation neuer talentierter Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf den Plan, aber unabhängig davon, wie wir den künstlerischen Wert ihrer „revolutionären Literatur“ heute beurteilen, währte auch ihre Schaffenszeit nur zwanzig oder dreißig Jahre.

Dann, nach den zehn Jahren der Kulturrevolution, brach die Zeit der Reform- und Öffnungspolitik an, also wieder eine umwälzend neue Ära, doch auch das Schaffen der Generation von Schriftstellern, die im reißenden Strom dieser neuen Ära die literarische Bühne betreten haben, geht nun unversehens zu Ende. Dabei kommt mir unweigerlich ein Sprichwort in den Sinn: „Alle dreißig Jahre ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf.“

„Und ich gestehe, dass ich das Romanhafte an meinen Romanen verabscheue und dass ich die verwegene, von Selbstüberschätzung zeugende Sehnsucht hege, einmal einen Roman zu schreiben, der nichts Romanhaftes mehr an sich hat.“

Aber auch wenn ich unter den heutigen Schriftstellern in Festlandchina „vom rechten Pfad abgekommen“ bin, auch wenn ich mir meinen Weg mühsam selbst bahnen muss, verstrickt in endlose Debatten, so profitiere doch auch ich davon, dass nach drei- oder viertausend Jahren wechselvoller chinesischer Geschichte die letzten dreißig oder vierzig Jahre der Reform- und Öffnungspolitik der Literatur ein höchst günstiges Umfeld geboten haben – und dass diese paar Jahrzehnte allesamt mit meinem besten Alter als Schriftsteller zusammengefallen sind. Deshalb tröste ich mich gern damit, dass ich mir sage: „Yan Lianke, du solltest dich mit deinem Schicksal zufriedengeben. Drei- oder viertausend Jahre Geschichte, und du hast ausgerechnet die Zeit der Öffnung erwischt und hast sie voll ausgekostet – das ist Grund genug, zufrieden zu sein.“

So sinniere ich vor mich hin und tröste mich, während in China wieder eine neue Zeit angebrochen ist. Zugleich ermahne ich mich auch ganz nüchtern, dass ich meine Energie nicht mehr damit verschwenden sollte, über die Veröffentlichung meiner Bücher nachzugrübeln, sondern dass ich lieber darüber nachdenken sollte, welche Werke ich zum Ende meines Lebens schreiben will. Und ich gestehe, dass ich das Romanhafte an meinen Romanen verabscheue und dass ich die verwegene, von Selbstüberschätzung zeugende Sehnsucht hege, einmal einen Roman zu schreiben, der nichts Romanhaftes mehr an sich hat. Ich will mir meine eigene Insel Wayowayo erschaffen, eine Welt, auf der ich meinen ganz eigenen Weg als Schriftsteller zu Ende gehen, aber in der ich zugleich auch noch einmal zu neuen Ufern aufbrechen kann.

Ich hoffe, bald ergibt sich für Sie die Gelegenheit, einmal nach Peking zu kommen. Oder für mich die Möglichkeit, noch einmal nach Hualien zu kommen.
Solange Sie dort sind, verzichte ich gern darauf, den Studierenden irgendwelche Vorträge zu halten. Ich möchte einfach nur Seite an Seite mit Ihnen, gefolgt von Ihren Kindern und meinen Enkeln, Ihre Mutter vor mir herschieben zu jenem alten Tempel, den Sie so oft besuchen. Im Tempel angelangt, knien wir nieder, um in schweigendem Gedenken zu beten für diese Welt, besonders für die Alten und die Kinder.

Ich wünsche Ihnen alles Gute! Und bitte grüßen Sie Ihre Mutter und Ihre Kinder von mir!
Ihr Lianke

Aus dem Mandarin von Marc Hermann