Medien | USA

„Diversität ist kein Selbstzweck“

Viele Stimmen sind nach wie vor in den Medien nicht zu finden. Die Journalistin Karen Attiah erklärt, wie „Cancel Culture“ die Debatte darüber beschleunigt hat. Ein Gespräch

Die Autorin Karen Attiah

In den Medien und an Hochschulen wird heftig über „Cancel Culture“ diskutiert. Bringt sie bestehende Machtstrukturen ins Wanken?

Die Vorstellung vom Canceln stammt ursprünglich aus Schwarzen Communitys. Für uns war es eine Möglichkeit, Menschen zur Verantwortung zu ziehen und zu zeigen, dass wir ein bestimmtes Narrativ nicht mehr mittragen. In den letzten Jahren hat der Begriff „Cancel Culture“ Eingang in den Mainstream gefunden, dabei allerdings seine Bedeutung verändert. Er wird in den mächtigen Milieus, die hier in den USA im Allgemeinen von weißen Männern dominiert werden, zunehmend als Bedrohung empfunden. Sie nutzen ihn als Schutzschild, um sich vor schwierigen Gesprächen zu drücken oder, schlimmer noch, um weiter das sagen und tun zu können, was sie wollen, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hätte.

Cancel Culture war also ursprünglich ein Instrument des Aktivismus und wird nun von der Gegenseite instrumentalisiert? 

So ist es – und das Wort „woke“ hat die gleiche Entwicklung durchgemacht. Beide Begriffe werden verwendet, um die Forderung, alte Dogmen zu hinterfragen, als übertrieben abzutun. Der Begriff „woke“ entstand vor mehreren Jahrzehnten in der Schwarzen Community. Es war ein gruppeninterner Appell, wachsam und kritisch zu bleiben. Heute wird der Begriff „woke mob“ häufig verwendet, um die Kritik von Schwarzen, aber auch von anderen historisch Marginalisierten, LGBTQ-Gruppen und Latinos etwa, zum Schweigen zu bringen. Letzten Endes lenkt das negative Framing dieser Begriffe durch die Medien von dem ab, worüber wir eigentlich sprechen sollten: Macht, Schaden, Wiedergutmachung, Gerechtigkeit.

Aber haben Bewegungen wie MeToo nicht bereits zu einem Umdenken geführt?

Ich sehe MeToo – und in vieler Hinsicht auch die „Black Lives Matter“-Bewegung – als eine grundlegende Herausforderung für die herrschende Gesellschaftsordnung. Allerdings hat sich die MeToo-Bewegung zu sehr darauf konzentriert, ob ein paar berühmte Männer ihren Job verlieren oder suspendiert werden. Das war jedoch nur ein Aspekt. Sie hat auch die Stigmatisierung beseitigt, mit der wir früher oft rechnen mussten, wenn wir unsere Stimme erhoben und Menschen zur Verantwortung ziehen wollten. Leider bestehen die kritisierten Machtstrukturen aber bis heute. Frauen werden noch immer mit Geheimhaltungsvereinbarungen konfrontiert, man droht ihnen mit Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie den Mund aufmachen. Ja, MeToo hat die Dinge aufgemischt – aber dann haben wir den „Backlash“ oder Gegenreaktionen zu spüren bekommen.

Sind Rückschläge unvermeidlich, wenn der Status quo infrage gestellt wird?

Es steht einiges auf dem Spiel. Es geht im Grunde um das Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, ob dies nun mit sich bringt, dass man Gewalt gegen Frauen und sexuelle Belästigung anprangert oder, allgemeiner, die gesellschaftliche Ordnung kritisiert. Das Ganze reicht über die Frage hinaus, ob jemand einen millionenschweren Filmvertrag verliert oder ob ihm eine Plattform an einer angesehenen Universität verwehrt wird. Es gibt einen Generationenkonflikt, und viele Marginalisierte sind wütend und traumatisiert.

Werden die Debatten deshalb so emotional geführt?

Emotionen sind natürlich allgegenwärtig – und ein integraler Bestandteil der Politik insgesamt. Politiker appellieren an Ängste, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. In einigen Bundesstaaten wie Texas und Florida werden neue Gesetze gegen das Unterrichten der Critical Race Theory an Schulen verabschiedet; Politiker sprechen davon, dass der Ansatz die „Geborgenheit“ oder „Behaglichkeit“ von Kindern beeinträchtige. Sie sagen nicht explizit „weiße Kinder“, aber wir wissen aus Erfahrung, wen sie meinen. Wir sehen klare Beispiele dafür, dass die Gefühle von Weißen über die aller anderen gestellt werden. Weiße Gefühle werden durch Gesetze festgeschrieben und geschützt, das zeigt beispielhaft, wie es um die Machtverhältnisse in diesem Land steht.

Aber wie lassen sich Emotionen quantifizieren?

Viele dieser Debatten, auch die über Cancel Culture, sind einfach nicht rational. Man hört oft, dass mächtige weiße Männer aus der Gesellschaft verbannt oder gecancelt wurden. Ich behaupte nicht, dass dies nie vorkommt – aber ist es in einem solchen Ausmaß belegbar, dass es eine nationale Krise darstellt? Ich würde sagen: nein. Schon die Tatsache, dass Sie und ich über dieses Thema sprechen, zeigt, wie tief die Sorge bei uns verwurzelt ist, dass die bestehende Ordnung ins Wanken geraten könnte.

Stellen Sie als Journalistin fest, dass Sie umstrittenen Themen ausweichen?

Ich glaube nicht, dass ich das tue. Für mich ist es nicht angenehm, den Mund aufzumachen, aber noch unangenehmer ist es, zu schweigen. Am bösartigsten sind die Versuche, mich zum Schweigen zu bringen, wenn ich an der weißen Vorherrschaft Kritik übe. Im Moment denke ich, dass wir den Menschen Raum geben sollten, ihre Gedanken in der Öffentlichkeit zu äußern. Niemand weiß alles. Ich persönlich habe schon so manches aus Unwissenheit gesagt. Und es war kein Vergnügen, als ich damit konfrontiert und korrigiert wurde. Aber es ist nun einmal so, dass wir alle auf unsere Art versuchen, die Dinge besser zu verstehen.

Wie sieht es mit den Medien insgesamt aus? Wie verändern sie sich?

Die Medien sind heute natürlich andere als vor fünfzig Jahren. Neben den traditionellen Medien gibt es die sozialen Netzwerke, aber auch rechtsextreme Nachrichtensender, die ein bestimmtes Weltbild propagieren. Wir erleben gerade eine Atomisierung unserer Medienlandschaft. Heutzutage können sich die Menschen wirklich auf ihre ganz eigene Abenteuerreise begeben – wir haben keine zentralisierten Informationsquellen mehr. Einerseits erleben wir den besorgniserregenden Niedergang lokaler Medien, die die Menschen vor Ort informieren, ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Identität vermitteln und die zugleich immer wieder als eine Art Frühwarnsystem für größere Trends im ganzen Land gedient haben. Andererseits bin ich froh, dass es eine größere Vielfalt an Stimmen gibt. Zum Beispiel „Capital B“, das hier in Atlanta gegründet wurde, oder auch „The 19th“, eine Nachrichtenredaktion, die den Themen Frauenrechte und Genderfragen besondere Aufmerksamkeit schenkt.

Glauben Sie, dass die traditionellen Nachrichtenredaktionen vielfältiger werden?

Für mich ist Diversität kein Selbstzweck. Sie dient als  ein Mittel auf dem Weg zu einem vollständigeren Bild der Welt, in der wir leben. In unserer Branche ist es immer noch ein Thema, wer überhaupt Geschichten gestalten darf. Es bleibt noch viel zu tun, damit eine Vielzahl verschiedener Stimmen gehört und gesehen wird. Das geht über die Frage, wer in unseren Hochglanzbroschüren abgebildet wird, hinaus. Es bedeutet, Minderheiten tatsächliche Entscheidungsgewalt zu geben. Aus meiner Sicht als Meinungsjournalistin geht es bei Machtfragen auch darum, den Begriff der Objektivität, die lange Zeit ein journalistisches Dogma war, in einem größeren Zusammenhang zu diskutieren. Die Vorstellung, neutral zu sein, bedeutete, das Privileg zu haben, über den gesellschaftlichen Problemen zu stehen. Wir anderen, die wir Frauen oder Schwarze sind oder anderweitig ausgegrenzt werden, galten nicht als objektiv oder neutral.

Roxane Gay hat vorgeschlagen, den Begriff „Cancel Culture“ durch „Consequence Culture“ zu ersetzen. Würde das den Ausgegrenzten helfen?

Ich mag den Begriff. In diesem Land hatte man lange keinerlei Konsequenzen zu befürchten, wenn man  Schwarze oder Indigene verprügelte, vergewaltigte oder tötete. Männer, die ihre Frauen schlugen oder umbrachten, kamen ungestraft davon. Die kurze Geschichte Amerikas war eine Geschichte der Straffreiheit, insbesondere für weiße Männer. Das war ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit in diesem Land. Das muss sich ändern. Straffreiheit muss der Vergangenheit angehören.   

Das Interview führte Jess Smee

Aus dem Englischen von Claudia Kotte