Minimalismus

Die Ästhethik des Verzichts

Was empfinden wir als schön: Opulenz oder Schlichtheit? In Architektur und Lyrik ist die Debatte seit Jahrhunderten aktuell. Doch ist die Ästhetik der Reduktion nur ein Trend für Reiche?

Ein goldenes Schlafzimmer, in der Mittel ein reich verziertes Himmelbett mit rot-goldenen Vorhängen. Rechts ein Kamin, darüber ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen, auch die Wände sind goldbespannt. Von der hohen Decke hängt ein Kristalllüster.

Hier ist alles Pomp: Ein Blick in die Schlafgemächer von Versailles

Was macht ein Gebäude zu einem schönen Bauwerk? Ornamente an der Front, schmiedeeiserne Balkongitter, Marmorfiguren am Portal? Oder ist es viel einfacher: Ist ein Gebäude dann schön, wenn es möglichst vielen Menschen Wohnraum bietet? Können wir die ästhetische Bewertung eines Bauwerks von den Umständen seiner Errichtung und dem ökologischen und menschlichen Preis, den es kostete, trennen?

In den 1730er-Jahren kam der verspielte Rokoko-Stil auf, ein keckes Erbe der grandiosen Prachtentfaltung des Barocks. Selbstverständlich konnten nicht alle Menschen solch teure Gebäude besitzen. Während die Ärmsten des Volkes darbten, genoss der Adel die ästhetischen Annehmlichkeiten der neuen Architektur.

Der üppige Stil des „Mehr“ fußte jedoch nicht nur auf blindem Standesdünkel, sondern auf einer fundierten ethischen Haltung: Gott teilt seine Gaben den Würdigen aus. Materieller Reichtum ist also schlichtweg ein göttlicher Liebesbeweis.

„Der opulente Stil des königlichen Schlosses galt nicht als Habgier oder Sünde. Im Gegenteil: Goldene Stühle und Silbergefäße waren Beweise dafür, dass der König von Gottes Gnaden regierte“

Dieser These folgend galt auch der opulente Stil des königlichen Schlosses nicht als Habgier oder Sünde. Im Gegenteil: Goldene Stühle und Silbergefäße waren Beweise dafür, dass der König von Gottes Gnaden regierte. Kein Wunder also, dass jene, denen die verschnörkelten Tore des Schlosses Versailles damals verschlossen blieben, schon bald einen echten Hass auf die Bewohner des Prachtbaus entwickelten – und sie alsbald stürzten.     

115 Jahre, nachdem Ludwig XVI. sich von seinem Schloss Versailles und seinem Kopf hatte trennen müssen, veröffentlichte der österreichische Architekt Adolf Loos seinen grundlegenden Aufsatz ”Ornament und Verbrechen“, in dem er überflüssige Schmuckelemente ablehnte und die Ästhetik des ”Mehr“ als ethisch minderwertig bezeichnete.

Der einflussreiche Schweizer Architekt Le Corbusier schuf minimalistische Architektur ganz im Sinne von Loos – als krassen Gegensatz zum reichen Gebäudeschmuck des Rokokos.

Diese neue Architektur beruhte auf einer entgegengesetzten ethischen Interpretation der sozialen Verantwortung: Die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, zu deren Planern Le Corbusier 1927 gehörte, sollte zum Beispiel eine effiziente Lösung für die Unterbringung der Arbeitermassen bieten, die wegen der rasanten Urbanisierung in die Städte strömten.

Die Siedlung war eines der großen Wohnbauprojekte seiner Zeit und zeichnete sich durch schlichte Innenausstattung und relativ geringe Baukosten aus. So erhielt die Ästhetik des »Weniger« eine ethische Aussage: Ein schönes Gebäude ist eines, das erschwinglichen Wohnraum für viele Arbeiter bieten kann.

„Die Wendung ”Less is more“ wurde zum Leitspruch der modernistischen Bewegung, weit über die Architektur hinaus“

Geleitet wurde das Weißenhofprojekt von dem deutsch-amerikanischen Architekten Ludwig Mies van der Rohe, der den Satz ”Less is more“ – ”Weniger ist mehr“ – prägte. Diese Wendung wurde auch zum Leitspruch der modernistischen Bewegung, weit über die Architektur hinaus, und beeinflusste Design, Dichtung, Literatur, bildende Kunst und Musik. ”Less is more“ ist jedoch mehr als nur ein ästhetischer Leitsatz: Es ist eine Weltanschauung, gestützt auf verschiedene, gelegentlich auch widersprüchliche ethische Grundsätze.

So betonten die Väter des Modernismus stets die logische und vernünftige Planung und lehnten Ornamente und übermäßige Dekoration als dekadent ab. Der Leitspruch enthält auch Spuren eines christlich-religiösen Denkens, das Prunk und Schmuck mit sündhaftem Stolz verbindet und Genügsamkeit predigt. Die japanische Kultur lieferte weitere Anregung zum ”Weniger ist mehr“, speziell der japanische Zen-Buddhismus.

Bei diesem stehen die Vergänglichkeit, beständiger Wandel und die Abwesenheit des Selbst, oft auch als ”Leere der Dinge“ bezeichnet, im Mittelpunkt.

„In vielen israelischen Kibbuzen wurde das „Volkshaus“ in architektonischer Umsetzung der marxistischen Ideologie gebaut, in brutalistischem Sichtbeton, ohne Schnörkel und Schmuckelemente“

Die ästhetische Manifestation dieser Konzepte ist in den Gärten der Zen-Tempel zu finden: Sie sind schlicht gestaltet, rein und im wahrsten Sinne des Wortes „leer“, um Besuchern mehr Raum zur Meditation zu geben. In vielen israelischen Kibbuzen wurde das „Volkshaus“ in architektonischer Umsetzung der marxistischen Ideologie gebaut, geradlinig und insbesondere ab den 1950er-Jahren in brutalistischem Sichtbeton, ohne Schnörkel und Schmuckelemente.

Der an die marxistische Ideologie angelehnte Baustil israelischer Kibbuzim und der japanische Zen-Buddhismus sind zwar grundverschiedene Denkweisen, die sehr unterschiedliche ästhetische Wertvorstellungen hervorgebracht haben: Zwischen den brutalistischen Betonmassen der Kibbuz-Bauten und der Zartheit der japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik, die die buddhistische Vorstellung von Vergänglichkeit repräsentiert, gibt es äußerlich keine große Gemeinsamkeit.

Und doch beruhen beide auf der Annahme, dass gerade der Verzicht auf Schmuckelemente ethische und ästhetische Qualität befördert.

„Viel Drumherum erregte den Verdacht mangelnder Authentizität, während simple Worte und ein reduzierter Stil auf Begabung und Bemühen verwiesen“

Dieser Trend zur Minimalisierung blieb längst nicht nur auf Bauwerke begrenzt. In der Prosa verpönte der Minimalismus ein Übermaß an Bildern und Metaphern und forderte Schriftsteller auf, die Wirklichkeit unverblümt darzustellen, ohne unnötige Ausschmückung. Viel Drumherum erregte den Verdacht mangelnder Authentizität, während simple Worte und ein reduzierter Stil auf Begabung und Bemühen verwiesen.

So lautet eines der berühmtesten Zitate von Mark Twain: „Ich hatte keine Zeit, einen kurzen Brief zu schreiben, also schrieb ich stattdessen einen langen.“

Das wohl bekannteste Beispiel dieser lyrischen Verknappung ist das japanische Haiku. In gerade mal 17 Silben soll der Dichter eine ganze Welt einfangen, oder zumindest einen vergänglichen Moment. Nehmen wir dieses Kunstwerk von Matsuo Bashô, geboren 1644:

In Kyoto bin ich
doch beim Schrei des Kuckucks
sehn ich mich nach Kyoto

Bashôs Worte beschreiben die Sehnsucht nach etwas, das man lange nicht haben konnte. Nach einem Ort oder einem Menschen, den man wiederzusehen hofft, nur um festzustellen, dass man sich auch in dessen Beisein nach dem sehnt, was einmal war und nicht mehr ist. All das steckt in Bashôs Zeilen, die mit so wenig so viel mehr auszusagen vermögen.

Doch ist lyrische Beschränkung den opulenten Reimen notwendigerweise ästhetisch überlegen? Den 17 minimalistischen Silben des Haikus könnte man etwa den großartigen Aufbau der Sonette entgegenstellen: 14 gereimte Zeilen, eine Fülle an Bildern und Dekor. Zum Beispiel Shakespeares Sonett Nummer fünf, das sich – ähnlich wie Bashô – mit der Vergänglichkeit beschäftigt:

Die Stunden, die mit sanftem Wirken fassten
Das süße Bild, das jedes Aug erquickt, 
Verheern tyrannisch als Ikonoklasten,
Was lieblich prangte, bald, und rastlos rückt
Die Zeit voran und treibt den Sommer hart
In Winters Kälte, macht ihn da zuschand,
Hin sind die Blätter, Saft im Frost erstarrt,
Verschneit die Schönheit, öde ist das Land.
Lebt nicht der Schönheit Destillat noch fort
Im gläsernen Verlies als Flaschengeist,
Wär mit der Schönheit ihre Kraft verdorrt
Und keiner wüsste mehr, was Schönheit heißt.
Der Frost raubt Blumen, destilliert man sie,
Nur ihren Putz, ihr süßes Wesen nie.

Der japanische und der englische Dichter sind einander genauso fern wie der Steingarten des Tempels Ryôan-ji in Kyoto und die St. Paul’s Cathedral in London. Aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten und so betrachteten die einen Shakespeares Sonette stets als den Höhepunkt der menschlichen Dichtkunst, während andere sie bis heute als übermäßig gekünstelt und erdrückend abstempeln.

„Was schaut man sich lieber an: das Schloss Versailles oder die Weißenhofsiedlung?“

Wieder andere sehen in den Zen-Gedichten – und in der minimalistischen Dichtung überhaupt – einen sterilen Manierismus, der mangelndes Können kaschiert. Diese ästhetische Debatte lässt sich von der Lyrik auf andere Gebiete ausdehnen: Welches Gemälde ergreift mehr, die „Komposition mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz“ von Piet Mondrian – von dem ein anderes abstraktes Gemälde übrigens 75 Jahre lang falsch herum ausgestellt wurde, wie sich kürzlich herausstellte – oder die „Opferung Isaaks“ von Caravaggio? Was schaut man sich lieber an: das Schloss Versailles oder die Weißenhofsiedlung?

Dass die Ästhetik der Beschränkung heute mit Begeisterung aufgenommen wird, beruht unter anderem auf einer philosophischen Denkweise, die das „Schöne“ mit dem „Guten“, also dem moralisch Gebotenen, gleichsetzt.

Schon im Mittelalter brachte Thomas von Aquin Schönheit mit moralischer Integrität in Verbindung. In zahlreichen Märchen und Sagen wird die körperliche Schönheit mit einem tugendhaften Charakter gleichgesetzt.

„Was ist mit jener Schönheit, die nun gerade im Bösen und Dunkeln verborgen liegt?“

Wenn wir davon ausgehen, dass die ästhetische Schönheit die sinnliche Verkörperung des Wahren und Guten ist, folgt daraus ja, dass das ethische Gebot zur Konsumbeschränkung sich auch in den ästhetischen Werten der Einschränkung ausdrücken muss. Aber was ist mit jener Schönheit, die nun gerade im Bösen und Dunkeln verborgen liegt, der Schönheit, die sich uns in Begierde, Stolz, zügelloser Leidenschaft offenbart?

So schildert das Buch „Les Fleurs du Mal“ („Die Blumen des Bösen“) von Charles Baudelaire in einer Fülle von Bildern und Metaphern das dunkle erotische oder ekelhafte Leben in Paris und warnt schon im Vorwort, dem einleitenden Gedicht „An den Leser“, vor einem weit mächtigeren Feind als sämtlichem sozialen Übel und allerlei Geschlechtskrankheiten: der Langeweile. 

Der Vertreter von „Less is more“, Mies van der Rohe, erfuhr über die Jahre eine ähnliche Kritik aus widerstreitenden Richtungen. Eine davon äußerte sich in dem Bonmot „Less is a bore“, also „Weniger ist langweilig“, geprägt von dem Architekten Robert Venturi. Venturi kritisierte die monotone modernistische Tyrannei und rief zu einer postmodernen Revolution in der Architektur auf.

Daneben behaupten sozial fundierte Kritiken, der Minimalismus, der auf sozialistischer Grundlage in Europa entstanden war und zunächst eine echte Lösung für die Wohnungsnot im Industriezeitalter bieten wollte, sei im Lauf der Zeit zu teuren und kaum umsetzbaren Luxusprojekten verkommen.

Tatsächlich hat Mies van der Rohe zwar mit der Planung von Arbeitersiedlungen in Europa angefangen, nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten dort aber lieber minimalistische Ferienhäuser für Reiche und Wolkenkratzer für Großunternehmen entworfen.

„Beschränkung verweist nicht notwendig auf Bescheidenheit“

Beschränkung verweist nicht notwendig auf Bescheidenheit. Manchmal geht es gerade um stolze Abhebung vom „Vulgären“ und „Massenhaften“, von jenen „Volksmassen“, von denen der Mensch, der sich etwas Besseres dünkt, lieber abrücken möchte, unter anderem durch einen raffinierten minimalistischen Baustil. Aus ähnlichen Erwägungen haben einige jüdische Denker jede Art von Verzicht kritisiert: Sie erkannten darin als Bescheidenheit getarnte Überheblichkeit.

Während wichtige Strömungen im Christentum die Abstinenz – von Ehe und Familie, von Wein und Fleisch – als Zeichen der Liebe zu Gott werteten, heißt es im Jerusalemer Talmud: „Der Mensch wird einst Rechenschaft ablegen müssen darüber, was sein Auge erblickte, er aber nicht verzehrte.“

Als Leserin bewundere ich die sparsame Prosa Raymond Carvers, der gerade durch Mut zur Lücke Bedeutung zu schaffen vermag. Aber nicht weniger genieße ich Literaten wie Stefan Zweig, die unter großzügigem Einsatz barock ausufernder Metaphern schwer zu beschreibende Zartgefühle in Worte fassen.

Als Schriftstellerin sitze ich am Schreibtisch, vor mir eine eben geschriebene Seite, und stelle mir dieselbe Frage wie Mies van der Rohe und Co: mehr oder weniger?

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama